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Die Conti Limmer
100 Jahre lang, von 1899 bis 1999, produzierte die ehemalige „Excelsior" und spätere Conti Limmer verschiedenste Erzeugnisse aus Hart- und Weichgummi. Der Journalist Torsten Bachmann hat die wechselvolle Geschichte der Conti Limmer nachgezeichnet.Dieser Text erschien in zwei Teilen in den Wochenblättern (Extrabeilage "halloLINDEN" Januar und Februar 2013).
Die Conti Limmer
Von Torsten Bachmann
Teil 1: Von der Kammsägerei zum Hersteller technischer Gummiprodukte
Die Geschichte der hannoverschen Gummiindustrie begann mit dem tierischen Werkstoff Horn. In seiner kleinen Kamm-Macherei in Hainholz sägte Louis Martiny seine Kämme aus Horn, dem damals üblichen Material für dieses Haarpflege-Utensil. 1857 traf Martiny eine zukunftsweisende Entscheidung: Er stellte die Kammproduktion auf das neuartige und billigere Hartgummi um. Dieses innovative Material, aus Naturkautschuk und Schwefel gewonnen, bezog er vorerst aus England. In den folgenden Jahren sammelte Martiny so viel Erfahrung mit diesem Material, dass er schließlich in der Lage war, Gummi selbst herzustellen. Für die großtechnische Produktion gründete er im April 1862 seine Gummi-Kamm-Comp., die erste Gummiwarenfabrik Hannovers. Die Fabrik in der Strielstraße mit einer 6-PS-Dampfmaschine beschäftigte 80 Mitarbeiter und gehörte nach damaligen Maßstäben schon zu den (kleineren) Großbetrieben.
Mit der Umwandlung in „Hannoversche-Gummi-Comp. OHG" im Jahre 1865 schied Firmengründer Louis Martiny aus dem Unternehmen aus, blieb ihm aber weiterhin verbunden. Die neuen Gesellschafter, der Kaufmann Otto Stockhardt sowie die Bankiers Moritz G. Meyer und dessen Bruder Ferdinand Meyer, investierten mit ihrem eingebrachten Kapital in moderne Maschinen und in die Erweiterung des Werkes. Das Produktionsprogramm wurde auf Modeschmuck und Raucherartikel (u.a. Pfeifenmundstücke) ausgeweitet. Besonders die Pfeifenmundstücke verkauften sich so gut, dass sie auch nach Frankreich exportiert wurden. Dort nutzten Genussraucher und die, die etwas auf sich hielten, französische Bryère-Pfeifen - damals ein Statussymbol.
1866 wurde das Königreich Hannover aufgelöst und in den preußischen Staat eingegliedert. Für die Hannoversche Gummi Comp. (auch „Gummi-Kamm" genannt) wuchs mit einem Schlag der Absatzmarkt für Gummiprodukte. So konnte die Firma in den Folgejahren weiter wachsen. Als 1871 mit der „Continental-Caoutchouc-&Gutta-Percha-Compagnie AG", dem Vorläufer der heutigen Continental AG, ein neuer Gummiproduzent gegründet wurde, beteiligten sich auch die drei Gesellschafter der Gummi-Kamm daran - allerdings nur mit einer Minderheitsbeteiligung. Es sollte der Beginn einer wechselvollen, von enger Kooperation und heftiger Konkurrenz geprägten Beziehung zwischen beiden Gummifirmen werden. Ein Trennung der Produktionsschwerpunkte wurde vereinbart: Die Hannoversche-Gummi-Comp. stellte weiterhin die angestammten Hartgummiwaren her, die neue Continental-Caoutchouc spezialisierte sich auf Weichgummi-Produkte wie Gummibälle, Gummidichtungen und Schläuche.
Werbung für die erfolgreichen Excelsior-Pneumatik-Luftreifen.
[Quelle: Sammlung Bernd Sperlich]
Ein großes Geheimnis war für jedes Gummiunternehmen die Mischung der Gummirohmasse, die von Erntejahr zu Erntejahr in unterschiedlicher Qualität anfiel. So musste jedes Jahr die Mischung des Rohgummis für die Produkte neu bestimmt werden - kein einfaches Unterfangen. In den 1880er Jahren konnte die Produktion erheblich ausgeweitet werden, denn Gummi ließ sich immer vielfältiger nutzen. So lieferte die inzwischen als Aktiengesellschaft firmierende „Hannoversche Gummikamm Co. AG" auch Isolationsbauteile für das boomende Telegraphie- und Telephoniewesen. Schon bald waren die Erweiterungsmöglichkeiten des Fabrikgeländes ausgereizt. So entschloss sich die Firmenleitung, ein neues Areal in Hannover-Limmer zu erschließen. Der Firmensitz wurde verlegt und die Produktion in Limmer begann 1899.
Werbung für die erfolgreichen Excelsior-Pneumatik-Luftreifen.
[Quelle: Sammlung Bernd Sperlich]
Auch in die Weichgummi-Produktion war die „Gummi-Kamm" nun eingestiegen, obwohl sie dadurch gegen die Produktionsabsprache von 1871 mit der Continental verstieß. Zunächst wurden Reifen aus Vollgummi und ab 1892 Pressluftreifen mit Luftschläuchen produziert. Besonders erfolgreich waren zwei Reifenprodukte aus Limmer: „Gloria" und „Excelsior". An die Verkaufserfolge der Continental AG, die bei Pneumatik-Reifen einen technologischen Vorsprung und einen deutlich höheren Umsatz hatte, konnte die Gummi-Kamm aber nicht herankommen.
Zum 50-jährigen Bestehen 1912 wurde der Firmenname in „Hannoversche Gummiwerke Excelsior AG" geändert, um die inzwischen breit aufgestellte Produktpalette zum Ausdruck zu bringen. Während des Ersten Weltkriegs richtete man die Produktion auf kriegswichtige Güter aus. Nach Kriegsende waren die Fertigungsanlagen so stark verschlissen, dass die Firmenleitung in neue Maschinen investierte.
Die Fabrikanlagen der „Excelsior“ in Limmer im Jahr 1912, dem 50-jährigen Firmenjubiläum.
[Quelle: Sammlung Bernd Sperlich]
Der starke in- und ausländische Wettbewerb im Gummimarkt führte in der Zeit der Inflation und der Weltwirtschaftskrise zu Firmenübernahmen und -zusammenbrüchen. Auch die Excelsior sollte davon getroffen werden. Die Erneuerungs- und Erweiterungsinvestitionen der Excelsior AG in den 1920er Jahren wurden durch mehrere Kapitalerhöhungen finanziert. Dabei gelang es der Continental AG bereits 1922, mehr als 25 Prozent des Aktienkapitals zu erwerben und damit zum bestimmenden Großaktionär der Excelsior AG zu werden. In der Folgezeit erwarb die Continental AG weitere Aktienanteile der Excelsior AG und erreichte schließlich, dass sich die beiden Unternehmensvorstände im Herbst 1927 einigten - die Excelsior AG fusionierte 1928 mit der Continental AG.
Teil 2: Vom Conti-Firmensitz zur Wasserstadt
Für die Excelsior AG in Limmer begann 1928 ein neues Kapitel. Sie fusionierte mit dem großen Konkurrenten, der hannoverschen Continental AG. Das Excelsior-Werk gliederte man in die Zentralorganisation der Conti ein. Der Name „Excelsior" wurde zwar im Handelsregister gelöscht, aber als gut eingeführter Markenname beibehalten. Nach wie vor belieferte das Werk aus Limmer die zahlreichen treuen Kunden mit den bekannten Excelsior Fahrrad- und Autoreifen - jetzt aber auf Rechnung der Continental.
Eine schwere Zeit brach mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 an: 40% der Gesamtbelegschaft im Continental-Konzern mussten innerhalb von zwei Jahren das Unternehmen verlassen, einige Werke wurden stillgelegt. Die Conti Limmer blieb zwar von Stilllegung verschont, es wurde aber scharf rationalisiert und die Reifenproduktion ab 1930 nach und nach in andere Werke verlegt. Ein anderes Problem der Gummiindustrie waren die Rohgummipreise, die oft heftig schwankten. Kein Unternehmen durfte sich zu früh oder zu umfangreich mit Kautschuk eindecken, denn bei Preiseinbrüchen kam man schnell an die Grenze der Konkurrenzfähigkeit. Alle Gummiproduzenten forschten deshalb in der Kautschukchemie. War es möglich, den von weit importierten Kautschuk durch Synthesekautschuk zu ersetzen? Der deutsche Chemiker Walter Bock schaffte den Durchbruch: Mit dem Styrol-Butadien-Kautschuk entwickelte er einen wirtschaftlich erzeugbaren Synthesekautschuk. 1929 erhielt die I.G. Farben AG das erste zugehörige Patent, aber erst acht Jahre später gelang mit dem Synthesekautschuk „Buna" die großtechnische Herstellung.
Ein bewährtes Produkt aus Limmer: Gummihandschuhe für Medizin, Haushalt und viele andere Zwecke.
[Quelle: Continental AG]
Der Machtantritt Hitlers 1933 und die Aufrüstungspolitik des nationalsozialistischen Regimes bescherte der Gummiindustrie einen Aufschwung. Auch die Continental vergrößerte durch Landkäufe das Gelände in Limmer samt der Landspitze zwischen den beiden Kanälen - in Limmer bekannt als „Deutsches Eck". Im Jahr 1939 zählte das Werk Limmer 4.100 Beschäftigte. Das Produktionsprogramm wurde nun kriegsbedingt auf chirurgisch-medizinische Artikel und Hartgummiprodukte wie Batteriekästen, Kraftstofftanks und Schuhsohlen eingeschränkt. Hinzu kamen kriegswichtige Produkte, vor allem Gasmasken. Während des Krieges setzte die Continental ebenso wie andere hannoversche Betriebe Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ein. In Limmer fertigten mehrere hundert weibliche KZ-Häftlinge in 12-Stunden-Schichten die sogenannten ,,Volksgasmasken".
Ein Missverständnis rettete das Werk Limmer vor Bombenangriffen. Die Alliierten waren bis Kriegsende der Ansicht, es handele sich um eine Spielzeugfabrik - die Umstellung von Zivil- auf Kriegsgüterproduktion hatten sie schlichtweg übersehen. So konnten schon 1945 die Maschinen wieder anlaufen. Die Besatzungsmächte ordneten die Herstellung von dringend benötigten Produkten wie hygienisch-medizinischen Artikeln an. Wegen der Rohstoffknappheit intensivierten die Conti-Werke die Aufbereitung von Altgummi. Limmer wurde jetzt auch der neue Firmensitz der Conti. Denn die bisherige Firmenzentrale im Conti-Stammwerk in Vahrenwald war ausgebombt. Acht Jahre lang leitete man von Limmer aus die Geschicke der Continental AG, bis 1953 die Verwaltung in das neugebaute Conti-Hochhaus am Königsworther Platz umzog.
"Fußwarm, hygienisch, schalldämpfend": Der beliebte Floorflex-Fußbodenbelag wurde in Limmer produziert.
[Quelle: Continental AG]
Mit der Währungsreform 1948 setzte der Aufschwung ein. Das Produktionsprogramm wurde wieder ausgeweitet auf medizinische Artikel, Haushalts- und Spielwaren, Batteriekästen und natürlich Kämme - das Produkt, mit dem die ehemalige Excelsior AG groß geworden war. In den fünfziger Jahren folgten Rationalisierungen. Einige teils altbewährte Artikel wie z.B. Kämme und Bälle fielen weg. Dafür folgten neue Produkte wie Boden- und Wandbeläge für Wohnungen oder Büros. Sie galten damals als „fußwarm, hygienisch, schalldämpfend". Seit 1948 waren auf dem Gelände in Limmer neue Fabrikationsgebäude und Lagerhallen entstanden. Auch eine Maschinen- und Formenfabrik für die Entwicklung eigener Produktionsmaschinen stand zur Verfügung. Auf einem aufgestockten Gebäude entstand 1958 der neue Speisesaal für die Belegschaft, der auch für Betriebsfeste und als Theatersaal genutzt wurde. Hier traten sogar Showgrößen wie Hans-Joachim Kulenkampff oder Heinz Ehrhardt auf.
In den 70er Jahren tobte eine Fusions- und Pleitewelle. Die Conti konnte sich zwar als eines von wenigen Unternehmen am Markt halten, aber die Rahmenbedingungen für Gummiproduzenten wurden immer härter: Kunststoff ersetzte mehr und mehr das Material Gummi. So musste 1984 in Limmer die jahrzehntelange Herstellung der schwarzen Batteriekästen eingestellt werden.
Blick aus der Luft auf das Contiwerk Limmer (1956). Im Vordergrund ist die Landspitze zwischen den beiden Kanälen, das "Deutsche Eck".
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
Immer mehr Gummiproduzenten verlagerten nun die Herstellung arbeitsintensiver Produkte ins kostengünstige Ausland. An dieser Entwicklung kam auch das traditionsreiche Werk in Limmer nicht vorbei. Vorerst wurden nur einzelne Produktionsbereiche aus Limmer abgezogen, bis die Conti schließlich im Jahr 1999 den Standort in Limmer ganz aufgab. Die noch bestehenden Produktions- und Verwaltungsbereiche wanderten zum Schwesterwerk nach Stöcken.
Auf dem brachliegenden Firmengelände in Limmer soll die „Wasserstadt Limmer" entstehen: Bis zu 600 Wohneinheiten, Geschossbau und Einfamilienhäuser, ergänzt durch Gewerbe und Nahversorger. Es wäre damit Hannovers größtes innenstadtnahes Wohnungsbauprojekt. Die meisten Fabrikgebäude, durch jahrzehntelange Gummiproduktion mit Nitrosaminen und Mineralölen kontaminiert, sind inzwischen abgerissen. Der markante, denkmalgeschützte Schornstein mit der Aufschrift „Continental" hingegen bleibt erhalten - und wird auch nächsten Generationen von der einstigen Nutzung erzählen.
© 2013 Torsten Bachmann, Hannover
www.torsten-bachmann.de