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"Blow Up" am Schwarzen Bären
Das Rätsel um die Zwillingstürme von 1910
Eine historische Postkarte aus dem Nachlass von Ilse Popp war der Auslöser. Und dabei ging es doch eigentlich um das Motiv im Vordergrund: Es zeigt den Neubau der Ihmebrücke am Schwarzen Bären in den Jahren 1910/11. Links neben dem Neubau wird der Verkehr über eine hölzerne Behelfsbrücke geleitet. Auch drei Straßenbahnen fädeln sich gerade nach Linden ein.
Michael Jürging und Manfred Wassmann hatten das Bild im Dezember 2006 zusammen mit einem aktuellen Vergleichsfoto an die lokalen Medien weitergegeben. Zu der Zeit war die Stadtbahnhaltestelle 'Schwarzer Bär' wegen Schienenarbeiten vorübergehend auf die Benno-Ohnesorg-Brücke verlegt worden.
Neubau der Ihmebrücke am Schwarzen Bären mit hölzerner Behelfsbrücke (links) in den Jahren 1910/11 auf einer historischen Postkarte. Im Hintergrund sind die Türme der Stadt Hannover zu sehen (von links): Synagoge (S), Kreuzkirche (A), Neustädter Kirche (B), Marktkirche (C), Reformierte Kirche (D) und Wasserkunst (E). Am rechten Bildrand ragen zwei rätselhafte "Zwillingstürme" (?) über das Haus Ihmebrückstraße Nr. 5.
[Quelle: Nachlass Ilse Popp]
Vergleichsfoto vom 26. Oktober 2006: Blick aus der 6. Etage des Gebäudes Schwarzer Bär auf die Benno-Ohnesorg-Brücke. Im Hintergrund sind die Türme der Marktkirche (C) und der Reformierten Kirche (D) wiederzuerkennen.
[Foto: Michael Jürging]
Interessehalber bemühte sich Michael Jürging auch noch darum, auf der alten Postkarte die Türme der hannoverschen Skyline zu identifizieren. Keine ganz einfache Sache bei dem verschwommenen Bildhintergrund! Die Kuppel der Synagoge wurde erst im dritten Anlauf am linken Bildrand entdeckt.
Aber was sind das eigentlich für eigenartige Zwillingstürme am rechten Bildrand, die das Flachdach des Hauses hinter der Ihme überragen? Es handelt sich hierbei um das Gebäude Ihmebrückstraße Nr. 5, das - ebenso wie seine Nachbarn - im zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört wurde.
Weder eine Vergrößerung am PC noch das Studium alter Stadtpläne konnte die Frage nach den Zwillingstürmen klären. Eigentlich müsste sich an der betreffenden Stelle die Aegidienkirche befinden. Aber die hatte immer nur einen Turm, nie zwei. Und so entwickelte sich ein intensives Rätselraten - mit immer neuen Beteiligten und neuen Lösungsvorschlägen.
Das Detail am Rande zog schließlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als das Hauptmotiv. Eine kleine - und glücklicherweise unblutige - Reminiszenz an den Kultfilm "Blow Up" von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1966. Dort entdeckt der Modefotograf Thomas, gespielt von David Hemmings, im Hintergrund seiner jüngsten Bildserie Hinweise auf einen vermeintlichen Mord. Der Film gipfelt - in http://de.wikipedia.org/wiki/Blow_Up treffend analysiert - in der Frage: Was ist Realität und was ist Einbildung?
Im Fall der Zwillingstürme kristallisierten sich im Laufe der Debatte zwei Lösungsansätze heraus:
Möglichkeit 1
Es handelt sich um die Seitentürme des hannoverschen Neuen Rathauses, das damals noch im Bau war.Lösung 1: Sind die Zwillingstürme mit den Seitentürmchen des hannoverschen Neuen Rathauses identisch?
[Foto 2008: Manfred Wassmann]
Wo aber wäre dann die große Rathauskuppel geblieben? Ganz einfach: Zeitgenössische Bilder zeigen, dass sie erst nach den Seitentürmen errichtet wurde. Also eine denkbare Lösung? Eine sorgfältige Prüfung der Blickachse mit Stadtplan und Lineal besagt: Nein! Das hannoversche Rathaus liegt weiter rechts und damit außerhalb des Blickwinkels der Postkarte.
Möglichkeit 2
Die Zwillingstürme zeigen eine auffällige Ähnlichkeit mit den beiden Türmen der Garnisonskirche. Die stand allerdings am Goetheplatz - und damit links außerhalb des Postkartenbildes. Aber wird da bei einer Vergrößerung am PC nicht ein schwacher grauer Schatten um die Zwillingstürme sichtbar? Eine Retusche also!?Lösung 2: Könnten die Zwillingstürme der Garnisonskirche - hier auf einer Postkarte aus dem Jahr 1901 - in das Foto mit der Ihmebrücke hineinretuschiert worden sein?
[Quelle: Sammlung Annette Görick]
Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Besitz einer Fotokamera nur wenigen Menschen vergönnt war, konnten professionelle Fotografen mit dem Verkauf von Ansichtskarten gutes Geld verdienen. Manche legten ganze Bilderserien auf. Und um den Absatz zu fördern, wurden gelegentlich kleine Retuschen eingefügt, um das Fotomotiv noch etwas interessanter zu machen.Ansichtskarte des Postamtes am Lindener Markt aus dem Jahr 1912. Das Automobil im Vordergrund wurde in das Bild hinein retuschiert.
[Quelle: Nachlass Ilse Popp]
Ein kleiner, gewitzter Schachzug also, gewissermaßen das i-Tüpfelchen für eine Postkarte, die nun mit einer fast kompletten Kirchengalerie am Horizont aufwarten konnte?! Eine plausible Erklärung, immerhin. Allerdings: Der letztendliche Beweis für eine Retusche fehlt. Wegen des verschwommenen Hintergrundes gibt die Postkarte ihr Geheimnis nicht völlig preis.
Einem Mann ließ das keine Ruhe. Er mochte sich nicht mit unbewiesenen Erklärungen zufrieden geben. Dieser Mann war Jürgen Wessel. Gewissenhaft prüfte er die Indizien wieder und wieder, suchte nach dem fehlenden Glied in der Kette.
Schließlich gelang es ihm im Mai 2009, einen Artikel der 'Hannoverschen Allgemeinen Zeitung' vom 9. Februar 1962 aufzustöbern. Unter der Titelzeile "Weil die Ihmebrücke nicht breit genug war" setzt sich darin der Autor Friedrich Lüddecke genau mit dem Fotomotiv auseinander, dass sich als Postkarte im Nachlass von Ilse Popp befindet!
Und so erfahren wir, dass das Foto im Sommer 1910 von dem Zimmermann August Blume aufgenommen worden war. Der Handwerksmeister hatte auch einen triftigen Grund: Die hölzerne Behelfsbrücke war von ihm erbaut worden. Er wollte also sein handwerkliches Können dokumentieren.
Dass das Foto als Postkarte Verbreitung fand, wird für August Blume kein Nachteil gewesen sein. Fragt sich nur: Wenn es dem Zimmermeister tatsächlich auf das Motiv im Vordergrund ankam, wozu sollte dann das Hineinretuschieren von zwei Kirchtürmen am hinteren Bildrand gut sein?
Also: Alles auf Anfang! Unglücklicherweise blieb das Original des Fotos verschollen. Auch der HAZ-Artikel von 1962 gibt als Quelle lediglich "Privatbesitz" an.
Gab es noch ein Chance, die Zwillingstürme zu identifizieren? Es gab sie! Eine Anfrage beim Historischen Museum Hannover, der zentralen Sammelstelle für historische Bilder aus dem gesamten Stadtgebiet, förderte ein erstaunlich ähnliches Foto zu Tage, aufgenommen im Jahre 1913. Der Fotograf ist leider unbekannt. Aber er muss genau am selben Fenster des Gebäudes "Schwarzer Bär" gestanden haben wie August Blume. Der Bildausschnitt ist etwas weiter nach rechts gerückt, so dass die Synagoge am linken Bildrand fehlt.
Vor allem aber: Das Foto von 1913 ist von bestechender Klarheit. Und nun - endlich - lassen sich die Zwillingstürme entschlüsseln. Wollen Sie die Wahrheit wissen?Ein Foto aus dem Jahr 1913, aufgenommen vom selben Standpunkt wie die Postkarte von 1910/11, bringt des Rätsels Lösung.
Neben den bereits bekannten Türmen (A bis E) wird außerdem in der Vergrößerung auch der Turm der Aegidienkirche (F) als hellgrauer Schatten sichtbar.
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
August Blume war gewiss ein ehrbarer Handwerksmeister. Bei seinem Foto hat er nicht getrickst und nichts hinein retuschiert. Was wir auf dem Flachdach des Hauses Ihmebrückstraße Nr. 5 sehen, sind schlicht - vier gemauerte Schornsteine. Durch die Fotoperspektive stehen sie zwei und zwei dicht beieinander, so dass sie bei einer unscharfen Wiedergabe zu zwei breiten "Türmen" verschmelzen. Des Weiteren ragen die Innenrohre unterschiedlich hoch über die gemauerten Schornsteinköpfe hinaus. So entsteht bei einer verschwommenen Reproduktion der Eindruck von zwei spitzen Dächern.
Und der vermeintliche Schatten, der bei der PC-Vergrößerung der historischen Postkarte Anlass zu der Vermutung gab, hier sei eine Retusche vorgenommen worden? Er entpuppt sich als das, was nach dem Studium des Stadtplanes an dieser Stelle zu erwarten war: Es handelt sich um die Konturen des Aegidienkirchturms.
"Was ist Realität und was ist Einbildung?" Der Film "Blow Up" lässt diese Frage bewusst offen und bezieht genau daraus seine Wirkung. Aber wir sind keine Filmemacher. Wir haben die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesucht - nur führt nicht immer der direkte Weg ans Ziel.
Dank
Unser besonderer Dank geht an Jürgen Wessel für seine beharrliche Suche nach einer beweiskräftigen Lösung und an Dr. Wolf-Dieter Mechler vom Historischen Museum Hannover für die Recherche des entscheidenden Vergleichsfotos.
[Eingestellt am 09.07.2009; zuletzt geändert am 21.09.2012]
Gebäude, Institutionen, sonstige Einrichtungen
- Rätselhafte Zwillingstürme, , Hannover (ehemalige Ihmebrückstraße)