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Die Erlöserkirche - Hannovers Gospelkirche
Dieser Artikel ist dem Buch
"Linden - Streifzüge durch die Geschichte"
des Journalisten Torsten Bachmann entnommen.
Die Erlöserkirche - Hannovers Gospelkirche
Von Torsten Bachmann
Dreihundert Menschen warten voller Erwartung auf den Bänken. Die Gottesdienste in der Erlöserkirche sind gut besucht - und etwas Besonderes. Denn Live-Gesang und eine Band mit Groove bringen die Besucher in Schwung. Auch die Predigt ist besonders. Lebensnah, bei den Menschen und ihren alltäglichen Erfahrungen, die zum Nachdenken anregen.
Alles begann 2001 mit einem Gospelkonzert in dem ehrwürdigen Gotteshaus. Der Innenraum war rappelvoll mit Besuchern, die in Bombenstimmung mitfeierten. „So etwas müsste man in den normalen Alltag einer Kirchengemeinde integrieren", fanden Gospel-Chorleiterin Christine Hamburger und Pastor Joachim Dierks damals. Zusammen mit dem damaligen Pastor der Gemeinde, Carsten Wedemeyer, setzten sie die Idee um. Zunehmend ist die Erlöserkirche in Linden-Süd Heimstatt für Gospelbegeisterte. Jeden ersten und dritten Sonntag im Monat finden Gospelgottesdienste statt. Darüberhinaus gibt es auch Workshops, offenes Gospelsingen („Wer kommt, singt mit") und mehrere Gospelchöre mit z.T. professionellem Anspruch.
Über die Grenzen Lindens hinaus bekannt: die Erlöserkirche gilt als Hannovers Gospelkirche.Dass in der Erlöserkirche Menschen zu Jazz- und Gospelmusik tanzen, hätte sich der Erbauer nie vorstellen können. Conrad Wilhelm Hase, Baumeister und Architekturprofessor, ließ die dreischiffige Kirche ab 1878 nach neugotischem Entwurf errichten. Zum ersten Advent 1880 wurde sie feierlich eingeweiht, unter dem Namen „Zionskirche". Dass man sie heute als „Erlöserkirche" kennt, liegt an einer späteren Umbenennung.
Einige reiche Lindener Bürger, darunter auch Baron von Alten, hatten den Kirchenbau mit Spenden unterstützt. Trotzdem reichte das Geld nicht aus. Bei der Fertigstellung im Jahr 1880 fehlten Glockenturm und Fußbodenbelag. Durch die Gründung eines Turmbauvereins, in den viele Lindener freiwillig einzahlten - vom Arbeiterkind bis zum begüterten Unternehmer - konnte die Turmspitze mit Glockengeläut 1882 eingeweiht werden. Einen vernünftigen Fußboden bekam die Kirche erst zur Jahrhundertwende.
Als zweite protestantische Kirche in Linden sollte sie die alte Dorfkirche St. Martin am Lindener Berg entlasten, aber auch die unter Armut leidenden Arbeiter im Süden Lindens für Gottes Botschaft gewinnen. Kein einfacher Job für einen Pastor. Der erste Pfarrer Gustav Heinrich Karl Tovote verließ schon nach drei Jahren die Gemeinde. Ihm folgte Otto Armknecht, der sich in 25 Amtsjahren als „Armenpfarrer von Linden" einen Ruf machte. Ihm zu Ehren stiftete die Stadt Hannover später ein Ehrengrab. Trotz aller Erfolge: Die traditionell starke Sozialdemokratie in Linden war kirchenkritisch eingestellt, und das färbte auf die Bewohner ab. Taufe, Konfirmation, Trauung und kirchliche Bestattung wurden in Anspruch genommen, am aktiven Gemeindeleben nahmen aber nur wenige teil. Wie konnte man diese Menschen für die Kirche begeistern? Jeder neue Pastor verfolgte seine eigenen Ideen...
Die Erlöserkirche im Jahre 1909. Damals trug sie noch den Namen Zionskirche.
[Quelle: Sammlung Jürgen Wessel]Zum Beispiel Otto Oehlkers, der 1909 dem verstorbenen Pastor Armknecht folgte. Erste Erfahrungen hatte er als Missionsprediger im Ausland gesammelt. Diese setzte er nun in Linden ein: Mit dem Kirchen-Posaunenchor ging es auf private Wohnungshöfe und kleine Plätze, um dort mit Musik Aufmerksamkeit zu erregen. Dann folgten vor der versammelten Menge Predigten von Oehlkers. Das Kirchenamt und der zweite Pastor der Zionsgemeinde, Gustav Meyer, lehnten die Methoden Oehlkers als „Reklame und Marktschreierei" ab. Pastor Meyer setzte lieber auf Vorträge und Gesprächsabende zu aktuellen politischen Themen. Zunehmend verhärteten sich die Fronten zwischen beiden Pastoren, auch die Gemeindemitglieder spalteten sich in zwei Fraktionen. Oehlkers Anhänger besuchten nur seine Gottesdienste und lehnten Pastor Meyer ab, Meyers Anhänger verfuhren ebenso. Diese Feindschaft führte schließlich dazu, dass die Einrichtungen der Gemeinde doppelt vorhanden waren.
Im Nationalsozialismus setzten die Pastoren anfangs ihre Arbeit recht unbehelligt fort. In Einzelfällen wurden sie von der Gestapo vorgeladen, größere Probleme traten aber nicht auf. Bis im Jahr 1943 die NS-Frauenschaft vorstellig wird. Ihre Forderung: Der Name Zion klinge zu „jüdisch" und müsse schnellstens geändert werden. Um Repressalien zu vermeiden, entschied der Kirchenvorstand, die Zionskirche umzubenennen. Der neue Name „Erlöserkirche" wurde nach dem oft genutzten Wahlspruch von Pastor Armknecht gewählt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt".
In der Nacht vom 8 zum 9. Oktober 1943 flogen alliierte Bomber den größten Luftangriff auf Hannover. Während viele Gebäude in Trümmer sanken, blieb die Erlöserkirche von größeren Schäden verschont. Nur das Dach war abgedeckt und die Fensterscheiben zerborsten. Pastor Oehlkers gelang es mit Hilfskräften, das Dach wieder zu reparieren. Gegen Kriegsende kamen neue Aufgaben auf die Geistlichen zu: Die vor der anrückenden Roten Armee flüchtenden Menschen erreichten Westdeutschland und benötigten Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung.
Mai 1945. Kriegsende. Hannover liegt nun in der britischen Besatzungszone. Britische Soldaten halten in der Erlöserkirche Militärgottesdienste ab. Die Kirchengemeinde ist jetzt auch Anlaufstelle für internationale Organisationen, die Hilfslieferungen an die hungernde deutsche Bevölkerung schicken. So landen CARE-Pakete aus den USA und Kartoffeln aus Schweden in Linden-Süd. 1950 beantragt der Kirchenvorstand die Rückbenennung von Erlöser- in Zionskirche. Erfolglos, denn das Landeskirchenamt lehnt ab. So ist der Name Erlöserkirche bis heute geblieben. Viele Veränderungen hat die Kirchengemeinde in ihrer 130-jährigen Geschichte durchgemacht, einschließlich des Namenwechsels. Manches aber hat sich doch über die Zeit gerettet. Da die Kirche im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde, gehört sie heute zu den am besten erhaltenden Kirchenbauten Hannovers. Auch die originale Innenausstattung des Erbauers Conrad Wilhelm Hase ist weitgehend erhalten: Die aus Eichenholz gefertigte Kanzel und der neugotische Altar versetzen Kirchenbesucher in vergangene Zeiten. Ebenfalls in der Erlöserkirche lief bis vor kurzem die wohl letzte mechanische Kirchturmuhr Hannovers. Erst 2011 ersetzte man sie durch ein elektronisches Pendant. Das historische Uhrwerk hat seitdem einen Ehrenplatz in der Kirche.
© 2012 Torsten Bachmann, Hannover
www.torsten-bachmann.de