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Der Rustenhof
von Michael Jürging
Wenn früher von Linden als dem "größten Dorf im Königreich Hannover" die Rede war, schwang meist ein spöttischer Unterton mit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blickte man von der Residenzstadt Hannover aus mit einer Mischung aus Hochmut und Argwohn auf den kleineren Nachbarn im Westen. Denn der nahm durch die Industrialisierung gerade einen ungeahnten Aufschwung und platzte aus allen Nähten. Dabei war Linden ursprünglich nur eines von vielen Bauerndörfern vor den Toren der Stadt gewesen.
Die steinernen Spuren der alten Bauernhöfe sind inzwischen längst getilgt. Sie mussten im Zuge der städtischen Entwicklung nach und nach ihren Platz räumen. Als Linden im Jahre 1885 eigene Stadtrechte erhielt, waren die verbliebenen Hofanlagen in erster Linie Bauerwartungsland. Schon damals galt so wie heute die Devise: Bauland wirft mehr Rendite ab als Ackerbau und Viehzucht.
Ausschnitt aus einer Lithografie mit Blick vom Martinskirchturm auf Linden und Hannover um 1875. Der alte Lindener Ortskern ist noch von landwirtschaftlichen Fachwerkgebäuden geprägt.
An der Mauer des von Alten'schen Grundstücks entlang verläuft die Kirchstraße. Im Vordergrund liegt der Rustenhof. Von dem Hauptgebäude - damals: Kirchstraße Nr. 2 - ist nur schemenhaft das Dach zwischen den Bäumen zu erkennen (siehe roter Kreis). Das Nebengebäude - damals Kirchstraße Nr. 1 - ist hingegen offen sichtbar.
Im Hintergrund sind die Industriebauten rund um den heutigen Küchengartenplatz zu sehen, darunter der Güterbahnhof (A), die Baumwollspinnerei und -weberei (B), die Mechanische Weberei (C) und die Brauerei (D).
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
Vergleichsbild vom Martinskirchturm: Die Häuser am unteren Rand stehen an der Badenstedter Straße. Vorne links ragt das Dach der Ihmeschule ins Bild.
Im Hintergrund sind das Heizkraftwerk anstelle der Baumwollspinnerei und -weberei (B) und das Ihmezentrum anstelle der Mechanischen Weberei (C) zu sehen.
Der rote Kreis markiert den ehemaligen Standort des Hauptgebäudes vom Rustenhof.
[Foto 2006: Michael Jürging]
In den 1890er Jahren wurden die letzten Hofgebäude kurz vor ihrem Abriss noch fotografisch dokumentiert. Die Bilder sind heute im Historischen Museum Hannover archiviert.
Informationen zu den einzelnen Hofanlagen hat Horst Kruse mit bewundernswerter Akribie in seinen "Materialien zur Ortsgeschichte hannoverscher Stadtteile" zusammengetragen. Sie wurden 1981 in einer kleinen Auflage veröffentlicht. Das Gesamtwerk ist im Stadtarchiv verfügbar. Wir stützen uns im Folgenden auf seine Angaben.
Einer von zeitweilig neun Vollmeyerhöfen in Linden war der sogenannte "Rusten-" oder auch "Rüstehof". Von seinem Hauptgebäude gibt es zwei bildliche Darstellungen. Bemerkenswerter Weise unterscheidet sich der Blickwinkel nur ganz geringfügig.
Das ältere Motiv ist ein Gemälde des hannoverschen Malers Gustav Koken (1850 bis 1910), das im Historischen Museum verwahrt wird. Gustav Koken war ein bekannter und beliebter Künstler aus einer großen Malerfamilie. Bis 1878 studierte er an der Kunstschule in Weimar bei Theodor Hagen. Anschließend kehrte er in seine Heimatstadt zurück. Gustav Koken bevorzugte die Öl- und Aquarellmalerei und war Mitglied im Hannoverschen Künstlerverein. Mit seinen Bildern war er regelmäßig an den Herbstausstellungen des Kunstvereins Hannover beteiligt.
Bei dem zweiten Motiv des Rustenhofes handelt es sich um ein Foto aus dem Jahre 1895. Ein Abzug befindet sich im Historischen Museum. Wir haben außerdem in den Unterlagen der St. Martinsgemeinde eine Abfotografie entdeckt, die auf einem individuell zusammengestellten Fotoalbum aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beruhen könnte. Gesicherte Angaben zur Herkunft oder zum Fotografen ließen sich bisher nicht ermitteln.
Der Rustenhof auf einem Gemälde von Gustav Koken (1850 bis 1910).
Links von dem strohgedeckten Gebäude ragt der Turm der St. Martinskirche über die Baumgruppe aus Kopfweiden hinaus. Am rechten Bildrand ist ein Stück Dach erkennbar, das zum benachbarten Niemeyerschen Haus gehört.
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
Foto des Rustenhofes aus dem Jahr 1895.
Im Vergleich mit dem Bild von Gustav Koken ist das Gebäude erweitert und mit Dachschindeln gedeckt. Die große Eingangstür ist unverändert geblieben. Man beachte das kleine Fenster links neben der Tür sowie das Taubenhäuschen oben links unter dem Dach und vergleiche mit dem Gemälde!
Rechts im Hintergrund ist wiederum das Dach des Niemeyerschen Hauses zu sehen.
[Quelle: St. Martinsgemeinde]
Der Name Rustenhof leitet sich von den Grundherren der hannoverschen Familie Rust aus der Zeit des 17. Jahrhunderts ab. Doch die Geschichte des Hofes reicht noch weiter zurück: Der früheste namentlich genannte Besitzer war im Jahre 1558 ein Henrich Eilers. Über den Namen des damaligen Grundherrn schweigt sich die Originalquelle jedoch aus.
Für das Jahr 1592 ist belegt, dass Hans Eilers, vermutlich ein direkter Nachfahre von Henrich Eilers, den Hof mit vier Hufen Landes von dem Grundherrn Gebhard Quirre - wir würden heute sagen: - gepachtet hatte. Der Hofzins betrug acht Hühner, 160 Eier ("2 Schock 40") sowie je ein Fuder Roggen, Gerste und Hafer. In der Zeit nach 1612 - das genaue Jahr ist nicht bekannt - trat die Familie Rust die Rechtsnachfolge der Quirren als Grundherren des Hofes an. Im Jahre 1688 ging das Eigentum dann an die gräfliche Familie von Platen über, die 1815/16 wiederum von der Familie von Alten abgelöst wurde. Wir sehen: Die Familie Rust, nach der die Hofstelle benannt wurde, war weder ihr erster noch ihr letzter noch ihr dauerhaftester Grundherr.
Die ehemalige Lage des Rustenhofes entspricht den heutigen Grundstücken Kirchstraße Nr. 4, 6 und 8 sowie Badenstedter Straße Nr. 12. Auch ein Teil vom Schulhof der Ihmeschule gehörte dazu. Bis zum Jahr 1891 lautete die Adresse Kirchstraße Nr. 1 und 2.
Historischer Kartenausschnitt mit dem Zustand um 1890, als die Badenstedter Straße im Kreuzungsbereich mit der Kirchstraße noch nicht gebaut war. Die Fläche des Rustenhofes ist farbig hinterlegt.
Das rot eingekreiste Hauptgebäude (Kirchstraße Nr. 2) ist sowohl auf dem Gemälde von Gustav Koken als auch auf dem Foto von 1895 dargestellt. Der Blick richtet sich in beiden Fällen auf die untere Schmalseite des Hauses.
Das Nebengebäude unten rechts (Kirchstraße Nr. 1) ist auf der Lithografie gut zu sehen, die den Zustand um 1875 zeigt.
[Bearbeitung: Michael Jürging]
Im Hinblick auf die Lage weist Horst Kruse in seiner Veröffentlichung (Band 8, Seite 297) noch auf folgenden interessanten Sachverhalt hin: "Immer wieder wird davon gesprochen, dass der Graf von Platen auf dem Gelände dieses Hofes die 30 Häuser in der Weberstraße erbauen ließ. Das Hofgelände war es mit Sicherheit nicht, aber es ist natürlich denkbar, sogar höchstwahrscheinlich, dass es sich um Ackerland dieses Hofes gehandelt hat. Auf jeden Fall endet mit der gräflichen Übernahme 1688 die landwirtschaftlich selbständige Nutzung, und Gebäude und Land werden meistens ohne Einzelnennung zum gräflichen Gutsbesitz gezählt."
So ist es erklärlich, dass sich unter den späteren Besitzern keine Bauern mehr befunden haben. Für das Hauptgebäude mit der damaligen Adresse Kirchstraße Nr. 2 ist zwischen 1847 und 1887 ein Schuhmacher namens Georg Röttger verzeichnet. Für das Gebäude Kirchstraße Nr. 1 werden im selben Zeitraum, jedoch in wechselnder Besetzung ein Arbeitsmann, ein Gärtner und zwei Witwen benannt.
Mit dem Ausbau der Badenstedter Straße und den dortigen neuen Häuserzeilen wurde schließlich das Schicksal des Rustenhofes endgültig besiegelt. Die beiden Gebäude wurden 1899/1900 abgerissen.
Quellen
Materialien zur Ortsgeschichte hannoverscher Stadtteile, Band 8: Lindener Hof- und Hausbesitzer 1550-1980 der 1839 bereits bebauten Grundstücke (Teil II), von Horst Kruse, Manuskript gedruckt im Selbstverlag, Hannover 1981
Künstler-Lexikon, von Gerd Menge, Manuskript Hannover, unveröffentlicht
Hannoversches Biographisches Lexikon, von Dirk Boettcher, Klaus Mlynek, Waldemar Röhrbein & Hugo Thielen, Hannover 2002
Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, von Ulrich Thieme & Felix Becker, ergänzt von Hans Vollmer (Zwanzigstes Jahrhundert), Leipzig 2008
Edmund, Gustav und Paul Koken. Von Sehnsucht und Erfolg einer Malerfamilie, Schriften des Historischen Museums Hannover 23, Hannover 2004
Dank
Wir bedanken uns beim Historischen Museum Hannover für die Genehmigung zur Verwendung des Gemäldes und der Lithografie.
Für die Informationen zum Künstler haben wir einmal mehr Gerd Menge (Hannover-Bornum) zu danken.
Bei den Recherchen zum ehemaligen Standort des Rustenhofes waren uns Werner Heine (Stadtarchiv Hannover), Dr. Wolf-Dieter Mechler (Historisches Museum Hannover), Jürgen Wessel und Andreas-Andrew Bornemann behilflich.
[Eingestellt am 27.09.2010]
Gebäude, Institutionen, sonstige Einrichtungen
- Der Rustenhof, Kirchstraße 4-8, 30449 Hannover