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Wie es dazu kam, dass Rumänien mitten in Linden lag (Teil 2)
von Horst Deuker
Bethel Henry Strousberg (1823 - 1884) war der bekannteste deutsche Industriemagnat seiner Zeit.
[Quelle: Historisches Museum Hannover]Am 22. Januar 1869 brach in Linden eine neue Ära an. Dafür steht der Name Bethel Henry Strousberg, der eigentlich Baruch Hirsch Strausberg, eingedeutscht: Barthel Heinrich Strausberg hieß. Ein Zeitgenosse schrieb später, Strousberg sei „wie ein Naturereignis" über Linden hereingebrochen. Geboren wurde er am 20. November 1823 in Neidenburg/Ostpreußen als Sohn eines jüdischen Kaufmanns. Er ging auf das Gymnasium in Königsberg und erwarb die Mittlere Reife. Nachdem sein Vater 1835 gestorben war, ging Barthel Heinrich Strausberg nach London zu seinen Onkeln Gottheimer. Dort lernte er schnell die Landessprache, anglisiert seinen Namen, ließ sich taufen und absolvierte eine kaufmännische Lehre. Anschließend wandte er sich zunächst dem Journalismus zu, wurde Parlamentsberichterstatter der ‚Times' und gründete einen eigenen Zeitungsverlag. Durch die Ehe mit Mary Ann Swan im Jahre 1845 heiratete Bethel Henry Strousberg in eine englische Adelsfamilie ein. 1854 ging er für ein Jahr in die USA, um im Folgejahr nach Berlin überzusiedeln. Dort wurde er preußischer Generalvertreter einer englischen Versicherungsgesellschaft. Bemerkenswert ist auch, dass er im selben Jahr ohne vorheriges Abitur und durch ein Studium in Abwesenheit den Grad eines Dr. phil. der Universität Jena erhielt - so steht es jedenfalls im „Hannoverschen Lexikon". Laut einer Sendung von Radio Prag in der Sendereihe „Reiseland Tschechien" vom 20. Oktober 2010 soll Strousberg auch den Titel eines Barons erworben haben.
Inzwischen wurde man auf ihn aufmerksam. Der fortschreitende Eisenbahnbau in England veranlasste ihn, auch in Preußen die Entwicklung des neuen Verkehrs- und Transportmittels zu forcieren. Durch seine guten Kontakte zur preußischen Regierung und zu englischen Finanzleuten erhielt Henry Strousberg 1862 seine erste Konzession zum Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Tilsit und Insterburg in Ostpreußen. Das war der Einstieg. Was nun folgte, war das „System Strousberg", das zu erklären den Rahmen hier sprengen würde. Jedenfalls beschaffte er sich Kredite und Aktien, die sein Unternehmen bald in ungeahnte Höhen trieb. 1855 konnte er seine Kontakte zum Hohenzollernprinzen Eitel Friedrich, der Fürst von Rumänien geworden war, nutzen, um sich als Unternehmer für ein groß angelegtes Eisenbahnprojekt im dortigen Land ins Gespräch zu bringen. Mit dem Vertragsabschluss erhielt Henry Strousberg den Auftrag, für 19 Mio. Mark die Rumänische Staatsbahn zu bauen. Dazu gehörten nicht nur Lokomotiven und Waggons, sondern auch 900 km Schienennetz und die entsprechenden Bahnhöfe. Schon 1868 galt Henry Strousberg als der „Eisenbahnkönig" von Deutschland. Friedrich Engels schrieb seinerzeit in einem Brief an Karl Marx mit ironischem Unterton:
„Der größte Mann in Deutschland ist unbedingt der Strousberg. Der Kerl wird nächstens noch deutscher Kaiser. Überall wo man hinkommt spricht alles nur von Strousberg."
Der Rumänienauftrag sollte die Unternehmenslage gründlich verändern. Der Berliner Maschinenfabrikant August Borsig hatte bis dahin schon eine große Anzahl von Lokomotiven an Henry Strousberg geliefert, die dieser auch stets pünktlich bezahlt hatte. Aber jetzt verlangte Borsig Vorkasse. Das war für Strousberg eine unzumutbare Forderung. Deshalb suchte er die Unabhängigkeit von den Borsigwerken, und dabei kam ihm das Verkaufsangebot der Egestorff'schen Maschinenfabrik gerade recht. Er kaufte das Unternehmen für 700.000 Taler, wobei er von einer örtlichen Kapitalgruppe unterstützt wurde. Die Maschinenfabrik wurde auf ein Aktienkapital von 3,5 Mio. Talern notiert. Sie hieß jetzt ‚Dr. Strousberg, vormals Georg Egestorff', wenig später dann ‚Hannoversche Maschinenfabrik'. Im Jahre 1871 wurde der Name nochmals geändert in ‚Hannoversche Maschinenbau-Actien-Gesellschaft, vormals Georg Egestorff'.
Henry Strousberg hatte als Generalunternehmer bis dahin bereits über tausend Schienenkilometer bauen lassen, unter anderem auch die Strecke zwischen Hannover und Altenbeken. Diese Schienenverbindung ermöglichte schließlich auch, dass Linden an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Mit dem Rumänienauftrag im Rücken, der ihm eine sichere Geschäftsgrundlage bot, baute Strousberg ein regelrechtes Firmenimperium auf. Er kaufte von der Dortmund-Hütte drei Hochöfen, Walz- und Räderwerke, ein Schienenwalzwerk, eine Waggonfabrik, dazu in Westfalen viele Kohlengruben. In der Nähe von Zbirow in Böhmen erwarb er ein riesiges Bergwerk, eine Hüttenanlage mit zwölf großen Zechen, Hochöfen und, und, und (vgl. Walter Buschmann: „Linden", 1981, Seite 206). Gleichzeitig kaufte er dort das Schloss Zbirow und ließ es von 1.500 Arbeitern in kürzester Zeit umbauen.
Reisezuglokomotive der Bauart Strousberg aus dem Jahr 1871
[Quelle: Sammlung Michael Jürging]In Linden begann Henry Strousberg damit, den Betrieb in der Maschinenfabrik zu rationalisieren. Als erstes reduzierte er die vielen verschiedenen Lokomotiven, die bisher gebaut wurden, auf nur noch vier Einheitstypen. Des Weiteren vereinfachte er die Arbeitsvorgänge, normierte die einzelnen Produktionsteile und strukturierte die einzelnen Abteilungen neu. So schaffte er es binnen kürzester Zeit, dass statt neunzehn nur noch elf Arbeiter benötigt wurden, um eine Lokomotive fertigzustellen.
Strousberg war in Hannover selten anwesend und leitete sein Imperium von Berlin aus. 1869 war er Abgeordneter der Konservativen Partei Preußens im Norddeutschen Reichstag. 1870 wurde eine Liste herausgegeben, die ihn als größten Grundbesitzer in Deutschland auswies. Seinerzeit besaß er fünfzig Rittergüter und ein Schloss, sein Vermögen wurde auf 50 Mio. Taler geschätzt und er beschäftigt 150.000 Arbeiter. Die Maschinenfabrik ‚Dr. Strousberg, vormals Georg Egestorff' entwickelte sich zur größten Eisenbahnfabrik Deutschlands.
Sein Palais Strousberg in der Wilhelmstraße Nr. 70, damals eine der besten Adressen in Berlin, steht heute leider nicht mehr. Es wurde im zweiten Weltkrieg zerstört. Heute befindet sich dort die Britische Botschaft, gegenüber vom Hotel Adlon am Pariser Platz. Die Internetplattform Wikipedia widmet dem Palais Strousberg ganze sieben Seiten. Der Kaufpreis einschließlich Einrichtung soll ca. 1 Mio. Mark betragen haben. Mehrfach war die Rede davon, dass Henry Strousberg auch in Hannover ein repräsentatives Haus kaufen wollte. Die Villa Solms in der Jägerstrasse war bereits ausersehen. Den Kauf soll aber der Bruder der Königin Marie verhindert haben. In den hannoverschen Adressbüchern taucht Strousberg jedenfalls nicht als Hausbesitzer auf.
In Antwerpen erwarb er die alte Zitadelle auf Abbruch in der Absicht, einen riesigen Hafen zu bauen. Auf der anderen Seite erzeugte die sozialpolitische Entwicklung - auch in Linden - zunehmenden Druck. Bei den letzten Reichstagswahlen war in Linden die SPD mit 48% der Stimmen gewählt worden, konnte sich aber noch nicht durchsetzen, weil Hannover und Linden einen gemeinsamen Wahlkreis bildeten, in dem der SPD-Anteil lediglich bei 11% lag. Aber das sollte sich im Laufe der nächsten Jahre ändern.
Das rasante Wirtschaftswachstum, nicht nur bei seiner eigenen Produktion, sondern auch bei den vielen neu angesiedelten Betrieben, erforderte immer mehr Arbeitskräfte. Henry Strousberg holte 2.500 Arbeiter aus dem Harz, dem Eichsfeld, aus Pommern, Ostpreußen, Schlesien und Sachsen nach Linden. Es waren zwar keine Facharbeiter, aber sie wurden schnell angelernt, um die Lücken zu füllen. Das hatte aber natürlich auch zur Folge, dass die Menschen untergebracht werden mussten, dass sie Wohnraum und Verpflegung benötigten. Die Straßen um die Maschinenfabrik waren bereits ausgebaut und belegt. Schon ein paar Jahre vorher hatten sich zwei Privatspekulanten daran gemacht, neuen Wohnraum zu erschließen. Der Essigfabrikant Heinrich Behnsen und der Viehverschneider Konrad Haspelmath hatten die Grundstücke im Auefeld - das ist der Bereich in Linden-Süd zwischen der Maschinenfabrik an der Göttinger Straße und der Ihme - für sich erworben, und nun beauftragten sie kleine Bauunternehmer, um ein paar eingeschossige Fachwerkhäuser zu errichten. Die neu entstandenen Straßen wurden nach ihnen benannt: Die Behnsenstraße nach Heinrich Behnsen, die Konrad- und die Haspelmathstraße nach Konrad Haspelmath sowie die Charlottenstrasse nach dessen Ehefrau Charlotte Haspelmath. Auch die benachbarte Wesselstraße erhielt den Namen ihres „Gründers". Zu Strousbergs Zeiten wurden die noch vorhandenen Restgrundstücke in den umliegenden Straßen bebaut und von zahlenden Mietern bezogen.
So fasste Henry Strousberg den Plan, der akuten Wohnungsnot mit dem Bau einer eigenen Arbeitersiedlung direkt neben dem Werksgelände zu begegnen. Sofort hatte der Volksmund für dieses Vorhaben einen Namen bereit: „Klein Rumänien". Denn ihre Gründung stand in engem Zusammenhang mit der Produktion für die Rumänische Staatsbahn.
Bereits fünfzehn Jahre zuvor, im Jahr 1854, hatte der Bankier Adolph Meyer für Beschäftigte seiner Mechanischen Weberei die erste Arbeitersiedlung an der Fannystraße in Linden-Nord gebaut. Der Straßenname war übrigens vom Vornamen seiner Ehefrau abgeleitet. Die Entwürfe für die Siedlung lieferten Heinrich Ludwig Debo, ein Mitbegründer des Architekten- und Ingenieur-Vereins Hannover, und der bekannte hannoversche Stadtplaner Georg Ludwig Friedrich Laves. Nachdem Adolph Meyer 1853 auch die Baumwollspinnerei und -weberei mitbegründet hatte, kam in den Jahren 1872 bis 1874 die Arbeitersiedlung an der Velvetstraße (Linden-Nord) mit weiteren dreißig Häusern hinzu. Velvet hieß der fein verarbeitete Baumwollstoff, der in seiner weiterentwickelten Form als schwarz-blauer „Lindener Samt" Weltruhm erlangt hat.
Ferdinand Wallbrecht (1841 - 1905) wurde mit der Planung der Arbeitersiedlung "Klein Rumänien" beauftragt.
[Quelle: Historisches Museum Hannover]Mit der Planung von „Klein Rumänien" beauftragte Henry Strousberg den hannoverschen Architekten, Bauunternehmer und nationalliberalen Politiker Ferdinand Wallbrecht. Ihm zur Seite stand der Architekt Georg(e) Hägemann. Im März 1869 wurde das Projekt gestartet. Es sollte seinerzeit die größte deutsche Arbeitersiedlung werden. In baulicher Hinsicht wurde ein Häusertyp zwischen einem englischen Cottage und einem Logierhaus angestrebt. In den meisten Fällen war es zweigeschossig. Im Parterre wohnte der Hauptmieter, wobei in der Regel altgediente Arbeiter der Stammbelegschaft bevorzugt wurden. Das Haus hatte auf beiden Etagen eine Wohnfläche von 66 m². Unten bestand es aus einer Stube, einer Kammer und einer Küche. Im oberen Stockwerk befanden sich drei bis vier weitere Kammern. Darunter lagen die Kellerräume, und auch ein Teil der Bodenfläche war nutzbar. Die Toilette befand sich im Gartenhof. Letzterer umfasste eine Parzelle von 50 m² für den Anbau von Gemüse und evtl. auch Kleintierhaltung zur Selbstversorgung. In verschiedenen Ortsbeschreibungen ist auch davon die Rede, dass es in „Klein Rumänien" ein Schlachthaus mit Räucherkammer gegeben haben soll. Dazu habe ich allerdings nirgends eine Bestätigung gefunden und auch aus der persönlichen Ortskenntnis ist mir das nicht in Erinnerung. In den Plänen für den endgültigen Ausbau der Siedlung waren noch einige Zusatzbauten für die kommenden Jahre vorgesehen: Der Bau einer Badeanstalt, eines Waschhauses und eines Leichenhauses. Darüber hinaus sollte es auch eine fabrikeigene Pensionskasse geben. Davon wurde aber nichts verwirklicht.
Die Hammerstraße in "Klein Rumänien" mit Blickrichtung nach Norden
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
Insgesamt wurden 144 Häuser mit 228 Wohnungen geplant. Die Miete betrug pro Jahr 55 Taler (bei einem Jahresverdienst von ca. 300 Talern) mit der Verpflichtung, mindestens zwei, höchstens aber sieben Schlaf- und Kostgänger aufzunehmen. Bei einer Vollvermietung, so war es seitens der Firmenleitung kalkuliert, konnte der Hauptmieter kostenfrei wohnen. Anfangs gab es einige Planungsfehler. So mussten zum Beispiel die Obermieter beim Toilettengang durch die unten liegenden Kammern des Hauptmieters gehen. Die Fehler wurden später eingedämmt, aber nicht vollständig behoben. Es war auch von Anfang an absehbar, dass es neben einer sehr hohen Wohnungsdichte eine große Fluktuation geben würde.
Die Straßen wurden symmetrisch und damit sehr übersichtlich angelegt. „Um die Arbeit zu ehren", so hieß es von Seiten der Direktion, wurden die Straßen nach Handwerksgeräten benannt. Die Hauptstraße wurde Brunnenstraße genannt und die drei Querstraßen hießen Hammer-, Feilen- und Zirkelstraße. Es wird auch eine Ambossstraße erwähnt, die ich auf den Plänen jedoch nicht entdeckt habe. Die beiden zentral gelegenen Plätze auf der Brunnenstraße waren mit einigen Geschäften bestückt wie Bäckerei und Schlachterei, darüber hinaus gab es ein Restaurant und noch fünf weitere verschiedenartige Geschäften. Wichtig war, dass mitten auf den Plätzen Wasserpumpen standen, wo sich jeder mit Wasser versorgen musste. Im Juni 1869 wurde die Arbeitersiedlung soweit fertiggestellt. Eine Wasserleitung wurde erst in den 1890er Jahren installiert. Die Zirkelstraße, die dem Firmengelände am nächsten lag, wurde schon vor dem ersten Weltkrieg wieder abgerissen, um Platz für eine Vergrößerung des Betriebsgeländes zu schaffen.
Die Arbeitersiedlung "Klein Rumänien" (unten links) mit der Brunnen-, Hammer-, Feilen- und Zirkelstraße auf einer Karte des Stadtbauamtes Linden von 1887/91 (Originalmaßstab 1:2.500).
Am östlichen Rand der Siedlung verläuft die Göttinger Straße in Nord-Süd-Richtung. Von ihr zweigen nach rechts die Wesselstraße (oben rechts) und die Dreikreuzenstraße (Mitte rechts) ab.
[Quelle: Sammlung IGS Linden]
Die Wohneinheiten lassen auf eine planungsmäßige Gesamtbelegung in der Siedlung von bis zu 2.000 Personen schließen. De facto lag sie aber allzu oft viel höher. Vermietet wurde ausschließlich an Mitarbeiter der Strousberg'schen Betriebe. Wenn jemand - egal aus welchen Gründen - seine dortige Arbeit verlor, musste er unverzüglich seine Wohnung räumen. Der Mietvertrag war an den Arbeitsvertrag mit dem Werk gebunden. Bei Streiks drohte die sofortige Entlassung, desgleichen bei unentschuldigtem Fehlen während der Arbeitszeit. Auf diese Weise sollten politische Aktionen unter den Werkssiedlern unterbunden werden. Sonnabends war Lohnzahltag. Es wurde jeweils der Lohn der voran gegangenen Woche ausbezahlt. Das war für das Unternehmen nicht nur ein finanzieller Vorteil, sondern konnte gegebenenfalls auch als eine Möglichkeit zur Disziplinierung der Belegschaft genutzt werden.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle ein paar persönliche Worte einflechten, denn - wie anfangs erwähnt - wohnten meine Großeltern in „Klein Rumänien" im Haus Göttinger Straße Nr. 17. Sie waren 1916 aus Dürwiß bei Aachen auf Arbeitssuche nach Hannover gekommen und zunächst beim Bruder meines Großvaters in der Kochstraße (Linden-Nord) gelandet. Mein Großvater Josef Amkreutz bekam „auf der Hanomag" Arbeit als Kesselschmied. Die nachstehenden Bilder aus meinem Familienalbum sollen einen kleinen Eindruck vom dortigen Leben vermitteln. Am 8. Juni 1930 wurde auf dem Hof der Göttinger Straße Nr. 17 die Hochzeit meiner Eltern gefeiert. Auf dem anderen Foto mit meinen Eltern kann man etwas deutlicher die Rückansicht der Arbeiterhäuser erkennen.
Hochzeitsgesellschaft des Ehepaars Richard und Josefina Deuker am 8. Juni 1930 in "Klein Rumänien"
[Foto: Privatbesitz Horst Deuker]Richard Deuker mit Ehefrau Josefina, geb. Amkreutz, im Garten des Hauses Göttinger Straße Nr. 17 in "Klein Rumänien"
[Foto: Privatbesitz Horst Deuker]
Doch zurück ins 19. Jahrhundert. Der harte Winter 1869/70 muss wohl in ganz Deutschland eine schwere Belastung für die Bevölkerung gewesen sein. Henry Strousberg ließ in dieser Situation erkennen, dass er auch eine soziale Ader hatte. In seinem Domizil in Berlin schenkte er der Stadt zur besseren Versorgung der Bevölkerung einen neuen Schlachthof und baute eine neue Zentralmarkthalle. Zu Strousbergs persönlichem Verhalten berichtet Ernst Korfi („Dr. Bethel Henry Strousberg", 1870) über ein Gespräch des Unternehmers mit seinem Kammerdiener, in dem es um die frierenden und hungernden Berliner ging:
„Dr. Strousberg: ‚... so kochen wir gleich für 10.000 Suppen, und zwar täglich, so lange es eben noch so kalt ist!' ... Dutzende von Besuchern und Geschäftsfreunden, die schon vom frühen Morgen an ... im Palais antichambrirten oder vorfuhren - konnten warten oder wieder gehen; Dr. Strousberg hatte Suppen für die Armen Berlins zu kochen und Holz auszutheilen." (zitiert von Wolfgang Voigt in seinem Buch „Der Eisenbahnkönig oder Rumänien lag in Linden", 1980)
Die folgenden zwei Jahre müssen wohl die dramatischsten im Leben des Bethel Henry Strousberg gewesen sein. Zunächst sah es in Linden noch günstig aus. 1870 wurden die Straßen in „Klein Rumänien" gepflastert, die bisher bei schlechtem Wetter große Probleme bereitet hatten. Dann baute er noch zwei Direktorenvillen an der Deisterstraße, gleich neben der Ahrberg-Fabrik. Am 19. Juli 1870 meldete sich mit der Kriegserklärung Preußens an Frankreich die große Politik zu Wort. Nach den zügigen militärischen Erfolgen der deutschen Armeen wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich mit dem Preußenkönig Wilhelm I. als Kaiser proklamiert. Im selben Jahr begann die Tragödie um den Industriemagnaten Henry Strousberg. Bereits 1870 hatten seine Geschäfte stagniert. Rumänien reklamierte die schlechte Ausführung der gelieferten Eisenbahnprodukte. An der Börse begannen seine Aktien zu purzeln. Strousberg konnte die Kurseinbrüche nicht mehr auffangen. Die Banken sahen eine günstige Gelegenheit, um einem allzu erfolgreichen Unternehmer und dessen „Finanzierungskünsten" beizukommen, und belegten ihn mit einer Kreditsperre. Im Reichstag kam Strousbergs Finanzsituation auf die Tagesordnung. Selbst Reichskanzler Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm I. konnten oder wollten ihm nicht helfen. Sein politischer Förderer, der Finanzminister Heinrich Graf von Itzenplitz, musste zurücktreten. Die deutsche Regierung sah diplomatische Schwierigkeiten mit Rumänien heraufziehen und drängte auf eine Klärung - so oder so. Die Angelegenheit wurde dem Berliner Bankier Adolph Hansemann zur Bereinigung übertragen. Daraufhin wurde als erstes die Lindener Lokomotivenfabrik für 4 Mio. Mark an eine Bankengruppe verkauft und ab dem 10. März 1871 als ‚Hannoversche Maschinenfabrik A.G.' weitergeführt. Henry Strousbergs sämtliche Firmenbeteiligungen, Hüttenwerke, Schlösser, Rittergüter und Fabriken wurden zugunsten der Gläubiger versteigert. Nach der erfolgreichen Abwicklung des Firmenimperiums wurde Adolph Hansemann für seine Verdienste vom deutschen Staat geadelt.
Mausoleum für Bethel Henry Strousberg auf dem St. Matthäus-Friedhof in Berlin-Schönefeld
[Foto: Lutz Mertens]Aber Henry Strousberg wollte noch nicht aufgeben. Er fuhr nach Moskau, um für die Rückzahlung eines gewährten Kredits einen Aufschub zu erwirken. Stattdessen landete er dort 1874 im Schuldgefängnis. In Deutschland und in Österreich wurde über sein gesamtes Restvermögen der Konkurs eröffnet. Damit landeten auch seine Rennpferde, eine umfangreiche Kunstsammlung und eine wertvolle Bibliothek beim Auktionator. In der russischen Haft schrieb er seine Rechtfertigung „Dr. Strousberg und sein Wirken". Erst 1877 wurde er aus der Haft entlassen. Henry Strousberg verfasste einige journalistische Arbeiten und träumte davon, einen Verbindungskanal zwischen Nord- und Ostsee zu bauen. Am 31. Mai 1884 starb er völlig verarmt in einem kleinen Berliner Hotel. (Wieder steht im „Hannoverschen Lexikon" mit dem 11. Mai 1884 ein anderes Sterbedatum.) Beigesetzt wurde er auf dem Friedhof St. Matthäus in Berlin. Die repräsentative Grabstätte hatte er schon vorher gekauft. Der Trauerzug war lang; es waren die kleinen Leute, die ihn in dankbarer Erinnerung behalten hatten und die ihn nun auf seinem letzten Weg begleiten. Die Prominenz fand nicht den Mut oder hatte nicht den Anstand für eine letzte Ehrerbietung. Es ist schon eine Fußnote wert, dass Henry Strousberg auf demselben Friedhof sowohl mit seinem Widersacher, nunmehr Adolph von Hansemann, als auch mit seinem Mentor Heinrich Graf von Itzenplitz im Tode friedlich vereint ist. Die Grabstätte ist von der Deutschen Stiftung für den Denkmalschutz kürzlich für 36 000 € restauriert worden, wobei ich das Pech hatte, dass sie bei meinem Besuch im Jahre 2009 völlig eingerüstet war und dadurch gerade keinen fotogenen Eindruck machte.
Bethel Henry Strousberg war eine Erscheinung, die in der deutschen Wirtschaftsgeschichte ihres Gleichen sucht. Die Zeit der genialen Eisenbahnunternehmer ist mit ihm untergegangen. Von nun an nahm der Staat die Eisenbahnen und ihre Entwicklung in die Hand.
Wie ging es in der Provinz Hannover weiter? Mit Erstaunen liest man im Katalog zur Verkehrsausstellung „750 Jahre Verkehr in & um Hannover" von Alfred B. Gottwaldt auf Seite 92:
„Einen tiefgreifenden Einschnitt bedeutet es auch, als 1872 die Eisenbahnen in Hannover von ihrem an englischen Vorbildern orientierten Linksverkehr auf den in Deutschland allgemein eingeführten Rechtsverkehr umgestellt wurde."
Wahrlich ein erstaunliches Ereignis, das man sonst nirgendwo registriert hat.
In Linden ging es auch nach dem Verkauf der Maschinenfabrik mit dem Lokomotivenbau weiter. Bis 1874 wurden noch 200 Stück ausgeliefert. Für „Klein Rumänien" wurden weitere 63 Häuser geplant, was 252 zusätzlichen Wohneinheiten entsprochen hätte. Dafür sollten die Hammer-, Feilen- und Zirkelstraße nach Süden verlängert werden. Aber eine plötzlich auftretende Überproduktion in der Maschinenfabrik gebot diesen Plänen Einhalt.
Bau der Eisenbahnbrücke über die Celler Straße (Hannover-Mitte) durch die Firma Louis Eilers. In Zusammenhang mit dem Neubau des Hauptbahnhofs wurde das Gleisbett im Stadtgebiet um 4,50 m angehoben.
[Quelle: Fa. EILERS 1911]1879 wurde in Hannover an der Stelle des alten Zentralbahnhofs der neue Hauptbahnhof errichtet. Die Funktionsfähigkeit des alten Bahnhofs war nach gut dreißig Jahren erschöpft. Nachdem Georg Ludwig Friedrich Laves den Plan für den ersten Bahnhof 1845/47 gefertigt hatte, wurde der Entwurf für das neue Empfangsgebäude von dem Architekten Hubert Stier ausgeführt Dazu hob man im Stadtgebiet zwischen der Stöckener Straße im Westen und der Bultstraße im Osten das Gleisbett auf eine Höhe von 4,50 m. Durch den Bau von neunzehn Tunneln bzw. Unterführungen wurde ein kreuzungsfreier Verkehr von Straße und Schiene ermöglicht. Diese Verbesserungen in Hannover nahmen viele Städte zum Anlass, um ihre neue Verkehrsplanung danach auszurichten, so in Berlin, Dresden und Hamburg. Die Amerikaner sprachen sogar von einem „Hannover-System", wie in der damaligen Ausgabe des „Brockhaus" nachzulesen ist. Ein weiterer Vorteil des neuen hannoverschen Hauptbahnhofs war, dass damit ein Durchgangsbahnhof statt eines Kopf- oder auch Sackbahnhofs entstanden war. Im „Stadtlexikon Hannover" steht geschrieben, dass es nach Karlsruhe der zweite seiner Art in Deutschland war. Vorbild war der englische Bahnhof Derby, den man sich genau angesehen hatte.
In Deutschland war mittlerweile die politische Mehrheitsmeinung umgeschlagen. Reichskanzler Otto von Bismarck machte für die Unruhen die Sozialisten verantwortlich, weil die für größere soziale Gerechtigkeit kämpften. Am 21. Oktober 1878 wurde im Reichstag das so genannte Sozialistengesetz verabschiedetet. Sein Titel war Programm: „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". Es wurde ungemütlich in Deutschland. Parteipolitische Versammlungen der Sozialdemokraten waren nun verboten. In jeder Versammlung, die womöglich sozialdemokratisch gefärbt sein könnte, saß ein Polizist als „Aufpasser". Bei Großversammlungen trennte die Polizei Frauen und Männer voneinander, Seile wurden zur Abgrenzung gespannt. Wurde ein Verein als politisch eingestuft, durften Frauen und Jugendliche nicht an den Versammlungen teilnehmen. Im Gegenzug schossen Vereine, Liedertafeln und Sportvereine überall wie die Pilze aus dem Boden. Sie übernahmen zum Teil die politische Informationsarbeit und Indoktrination im Untergrund. Übrigens wurde dabei auch Bethel Henry Strousberg scharf kritisiert, beispielsweise in einem Artikel von Dr. Glauber 1875 in der Zeitschrift 'Gartenlaube'.
Wegen der akuten Wirtschaftskrise Ende der 1870er Jahre tendierte in allen Betrieben in Preußen der Bau von Lokomotiven gegen Null. Von der Hannoverschen Maschinenfabrik in Linden konnten in dieser Phase nur noch zehn Loks ausgeliefert werden. Schrittweise wurden Teile der Belegschaft entlassen, wobei es vor allem zunächst die organisierten Arbeiter traf. In „Klein Rumänien" standen die ersten Wohnungen leer, und man ließ die Stammarbeiter zum Teil kostenlos wohnen. Aktionäre verzichteten teilweise auf ihre Dividende. Trotzdem gab es zu jener Zeit in Hannover nicht weniger als hundert Millionäre! Erst 1891 zahlte die Hannoversche Maschinenfabrik wieder Löhne in vergleichbarer Höhe wie vor der Wirtschaftskrise.
Die 'Hannoversche Maschinenbau-Actien-Gesellschaft, vormals Georg Egestorff' um 1875 mit Blickrichtung Westen.
Das dreieckige Firmengelände wird folgendermaßen begrenzt: Im Vordergrund von der Göttinger Straße, schräg rechts von der Hamelner Chaussee (heute Hanomagstraße) und schräg links von den Eisenbahngleisen des Bahnhofs Linden-Fischerhof. Die Siedlung "Klein Rumänien" befindet sich als eng bebautes Karree links im Vordergrund. Am rechten oberen Bildrand ist das von Johann Egestorff errichtete Berggasthaus auf dem Lindener Berg zu erkennen, das 1876 abgerissen wurde.
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
Durch das ständige Anwachsen der Bevölkerung und der Betriebe bekam die Lindener Verwaltung wachsende Probleme bei der Bewältigung ihrer Aufgaben. Das alte Gemeindehaus in der Posthornstraße war viel zu eng geworden. Mehrere Abteilungen mussten provisorisch ausgelagert werden. 1882 wurde der Bau eines neuen Rathauses beschlossen, denn Linden hatte längst stadtähnliche Ausmaße angenommen. Als Standort wurde das Grundstück in der Weggabelung von Deister- und Ricklinger Straße in der Nähe des Schwarzen Bären gewählt. Am 1. Oktober 1884 wurde das neue Gebäude nach dem Entwurf des Architekten Christoph Hehl fertig gestellt. Ein halbes Jahr später, am 1. April 1885, erhielt Linden eigene Stadtrechte.
Das sogenannte Dreikaiserjahr 1888 brachte für Linden kaum Veränderungen. Kaiser Wilhelm I. starb am 9. März 1888. Sein Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm, bestieg als Kaiser Friedrich III. den Thron, verstarb jedoch nur wenige Monate später an Kehlkopfkrebs. Mit seiner Person war die Hoffnung auf politische Reformen in Deutschland verknüpft gewesen, aber Friedrich III. war bereits schwer krank, als er den Thron bestieg. Nach seinem Tod wurde am 15. Juni 1888 sein Sohn als Wilhelm II. zum deutschen Kaiser ausgerufen. Der altgediente Otto von Bismarck blieb einstweilen Reichskanzler. Als er 1890 ein noch schärferes Gesetz gegen die Sozialdemokratie forderte, lehnte Wilhelm II. mit der Begründung ab, er wolle „die Sozialisten selbst erledigen". Noch im selben Jahr musste Otto von Bismarck auf Veranlassung des Kaisers in den Ruhestand treten. Die Sozialistengesetze wurden am 30. September 1890 aufgehoben.
In Linden wohnten im Jahr 1890 auf 1 km² Fläche im Durchschnitt 4.817 Menschen. Bis 1905 sollte sich die Zahl auf fast 10.000 Personen verdoppeln. Mit der Eingemeindung der umliegenden Orte Badenstedt, Davenstedt, Bornum und Limmer im Jahre 1909 stieg die Einwohnerzahl Lindens auf 61.600. Und nachdem 1913 auch noch Ricklingen hinzu gekommen war, beherbergte die Industriestadt insgesamt 85.623 Menschen. So ist es nicht verwunderlich, dass das 1884 fertig gestellte Rathaus schon nach wenigen Jahren von einem neuen, repräsentativen Gebäude abgelöste wurde. Das Neue Rathaus am Lindener Marktplatz wurde in den Jahren 1897 bis 1899 nach Entwürfen des Architekten Emil Seidel aus Halle errichtet. Das Verwaltungsgebäude an der Ecke Deisterstraße/Ricklinger Straße wurde damit nur fünfzehn Jahre nach seiner Einweihung bereits zum Alten Rathaus.
Alter Werkhof der Hanomag nach einer Kohlezeichnung von Fritz Jacobsen (Postkartenmotiv)
[Quelle: Nachlass Werner Krämer]1903 ist wieder ein Jahr, zum dem ich etwas Persönliches einflechten möchte. Das Zusammenleben in der Siedlung „Klein Rumänien" war trotz der harten Arbeitsbedingungen, der eng begrenzten finanziellen Möglichkeiten und der großen Fluktuation der Bewohner recht harmonisch. Man traf sich nach einem langen Elf-Stunden-Arbeitstag und hatte besonderen Spaß am Rugbyspiel - sicherlich eine Folgeerscheinung der englischen Gastarbeiter, die diesen Sport von ihrer Insel mitgebracht hatten. Das Fußballspielen gewann bis auf wenige Ausnahmen erst später an Bedeutung. Es formierte sich langsam eine Gemeinschaft, die im Zuge der allgemeinen Gründungswelle von Vereinen daran dachte, sich sportlich zu organisieren. Ein Verein musste also her. So wurde dann in der gegenüber liegenden Gastwirtschaft von Waldemar Zloch (Göttinger Straße Nr. 47) im Oktober 1903 der ‚Lindener Sportverein Alexandria von 1903' gegründet. Der ungewöhnliche Name entstand aus einer gewissen Ratlosigkeit unter den Gründungsmitgliedern. Man konnte sich nicht auf einen Namen einigen. Am Nebentisch saßen einige Matrosen, die beim Erzählen immer wieder davon schwärmten, dass es in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria am schönsten sei. Davon wurden die Gründungsmitglieder inspiriert, indem sie sich sagten: „So schön soll es auch bei uns werden!" Und so wurde der Namen „Alexandria" festgeschrieben. Von den sieben Gründungsmitgliedern wohnten sechs in „Klein Rumänien".
Das markante Firmenkürzel - hier aus weißen Fliesen - als Element der Industriearchitektur in der Hanomagstraße
[Foto 2011: Michael Jürging]Im Betriebsgeschehen der 'Hannoverschen Maschinenfabrik A.G. vormals Georg Egestorff' gab es 1904 ganz am Rande eine neue „Erfindung" mit kolossaler Auswirkung. Natürlich hatte sich das Firmengeschäft mit Lokomotiven, Dampfmaschinen usw. auch nach Übersee weiterentwickelt. Überall wurden die Erzeugnisse angeboten und geordert. Das setzte wiederum eine rege Korrespondenz voraus. Aber die Telegrammpreise waren beachtlich. 10 bis 15 Mark kostete das Verschicken eines Wortes mit bis zu zehn Buchstaben. Schon alleine der Absendername „Maschinenfabrik" kostete seine 30 Mark! Da hatte der damalige Oberingenieur Erich Metzeltin eine Idee (später hatte er noch sehr viel mehr Ideen): Wie wäre es, wenn man den langen Firmennamen ‚Hannoversche Maschinenfabrik Aktiengesellschaft' in der Telegrammadresse als „HANOMAG" abkürzen würde? Die Direktion war sofort einverstanden. Die Abkürzung hat sich danach schnell überall durchgesetzt, so dass auch die offizielle Firmenbezeichnung angepasst wurde. Scherzhafterweise schrieb Erich Metzeltin später in seinen „Lebenserinnerungen", er habe daher des Öfteren gesagt, dass er der „Gründer" der Hanomag sei.
Ein immer stärkeres sozialpolitisches Bewusstsein in der Arbeiterschaft machte der Firmenleitung immer wieder Probleme, weil viele Beschäftigte mit ihren dürftigen Lebensumständen nicht einverstanden waren. Im September und Oktober 1905 wurde wieder einmal - diesmal in der Fräserei der Hanomag - die Arbeit niedergelegt. Der Arbeitgeber reagierte mit 1.400 Aussperrungen, die sich sogar noch auf 2.000 erhöhten. Der Streik breitete sich in ganz Deutschland aus. Bei der Hanomag streikten 2.052 Arbeiter, in ganz Linden waren es 7.292 aus den verschiedenen Fabriken. Die bereits gegründeten Gewerkschaften - 1868 etwa die ‚Allgemeine Deutsche Metallarbeitergewerkschaft', aus der sich die IG Metall entwickelte - wurden von den Unternehmern einfach ignoriert. In diesem Fall ließen sich die Fabrikleitungen für den Arbeitskampf etwas ganz Neues einfallen: Sie engagieren Streikbrecherkolonnen aus dem Ausland, die über zehn Wochen die Arbeit in den Betrieben übernahmen. Daraufhin musste der Streik von den örtlichen Arbeitern ergebnislos abgebrochen werden.
Verwaltungsgebäude I der Hanomag (Postkartenmotiv)
[Quelle: Nachlass Werner Krämer]
Lokomotivenproduktion bei der Hanomag um 1900
[Quelle: Fa. EILERS 1911]In den Jahren von ca. 1898 bis 1918 gab es auf dem Werksgelände der Hanomag eine rege Bautätigkeit. Da blieb kein Gebäude so stehen, wie es einmal gestanden hatte. Die neue Kesselschmiede entlang der Hamelner Chaussee (heute Hanomagstraße) und vor allem das neue Verwaltungsgebäude nach den Plänen des Architekten Phillips verkörperten den neuen Stil, mit dem man jetzt auch auf das äußere Erscheinungsbild des Unternehmens großen Wert legte. Der Jahresumsatz stieg in dieser Zeit von 4 Mio. auf 33,5 Mio. Mark. Die Zahl der Arbeiter hatte sich vervierfacht, von 1.125 auf 4.000 Werksangehörige.
Gleich zu Beginn des ersten Weltkriegs wurden 1.230 Arbeiter zum Militär eingezogen. An ihrer Stelle kamen 1.600 Frauen in die Produktion. Die Zahl der Neubeschäftigten steigerte sich bis 1917 auf 2.300, darunter auch Kriegsgefangene.
Nach der deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg wurde in der Geschichte Lindens ein neues Kapitel aufgeschlagen. Denn ab 1918 gab es endlich ersthafte Verhandlung mit der Stadt Hannover über eine Zusammenlegung. Für Linden sah es diesmal günstiger aus als bei den früheren Versuchen, denn Heinrich Tramm war nicht mehr als hannoverscher Stadtdirektor im Amt. Jener Heinrich Tramm, der einmal gesagt hatte, es sei „geradezu ein Verbrechen, Hannover einen derartige Ballast anzuhängen wie ihn Linden darstellt." Oder wie er 1908 äußerte: Eine Eingemeindung Lindens habe er völlig aus dem Bewusstsein seines Denkens ausgeschlossen. Der Gipfel dieser Unfreundlichkeiten war aber die Forderung Tramms und seiner Anhänger, „dass Linden wegen der steuerlichen Mehrbelastung der Stadt Hannover zwanzig Jahre lang zusätzlich 500.000 Mark jährlich leisten soll. Nur mit einer Summe von 10 Millionen Mark wäre dieses auszugleichen."
Es wurden zähe Verhandlungen, die Oberbürgermeister Hermann Lodemann für die Stadt Linden führte und die sich über zwei Jahre hinzogen. Dabei spielten selbstverständlich auch politische Gegensätze eine Rolle. Das „rote" Linden war eine Hochburg der Sozialdemokratie, die in ihrer Entwicklung als selbstständige Stadt inzwischen einiges vorzuweisen hatte, obwohl sie immer noch von dem großen Nachbarn jenseits der Ihme finanziell abhängig war. Auf der anderen Seite gab es das national-liberale Hannover, das die bisherigen Bemühungen Lindens um einen Zusammenschluss immer mit einer gewissen Arroganz abgesagt hatte. In Linden wurde seit 1883 eine eigene Zeitung für die Lokalberichterstattung herausgegeben, Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Buchhändler hatten sich niedergelassen, es gab das Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium (heute Helene-Lange-Schule), weitere Volksschulen wie die Petrischule (heute Egestorffschule) waren eingerichtet worden, es war eine Gewerbliche Fortbildungsschule hinzugekommen, außerdem natürlich große Industriebetriebe wie Körting, die Lindener Eisen- und Stahlwerke oder Excelsior, um nur einige zu nennen. Aber die Angst, dass die Sozis nun auch in Hannover parteimäßig die Oberhand gewinnen würden, saß tief. Bei der Bürgervorsteherwahl im Jahr 1919 hätten bei einer bereits vollzogenen Vereinigung der beiden Städte die SPD und die USPD 51% der Wählerstimmen auf sich vereinigt. Natürlich gab es in Linden auch noch vieles nachzuholen. Es war keine eigene Polizei vorhanden, keine Berufsfeuerwehr, keine Gerichtsbarkeit und keine Garnison, kein Schnellzug hielt am Lindener Bahnhof, es gab keine Fernsprechzentrale, kein Theater und kein Museum.
Schließlich gelang dann bei den Verhandlungen um die Vereinigung der beiden Nachbarstädte der Durchbruch. Der Magistrat in Linden votierte einstimmig dafür. In Hannover kam die Mehrheit mit den Stimmen der SPD und des Zentrums zustande. Mit dem 1. Januar 1920 wurde Linden zu einem Stadtteil Hannovers. Aber es dauerte lange, bis sich die Lindener Einwohner an den neuen Zustand gewöhnt hatten. An den Ihmebrücke war für viele eigentlich die Welt zu Ende. Man blieb „Lindener" und wurde trotz des Zusammenschlusses noch lange kein „hannöverscher Stadtjapper".
Zeitungsreklame der Fa. Carl G. Roehrs aus den 1920er Jahren für das Hanomag-"Kommissbrot"Kehren wir wieder zurück zur Hanomag. Das Unternehmen baute 1921 nochmals ein neues Verwaltungsgebäude, und zwar auf dem Gelände der ehemaligen Zündhütchenfabrik. 1923 wurde erwogen, den Lokomotivenbau wieder aufzunehmen, aber die Pläne wurden nicht realisiert. Dafür gab es im Jahr 1924 eine Erweiterung der Produktpalette, die wieder einmal von sich reden machen sollte. Die beiden jungen Ingenieure Fidelis Böhler und Carl Pollich aus Berlin hatten einen Kleinwagen entwickelt, der von ihnen als „leicht, robust, zuverlässig und preiswert" angepriesen wurde. Dieter Tasch berichtet in einem Zeitungsartikel vom 11. Dezember 1999, dass die Hanomag für 10.000 Goldmark die Konstruktion einschließlich ihrer Erfinder einkaufte und das Gefährt zur Serienreife weiterentwickelte - eine Marktlücke, wie sich bald herausstellen sollte. Schnell hatte der Volksmund wieder einen Spitznamen parat. Man sprach vom „Kommissbrot" und erinnerte sich dabei an ein Grundnahrungsmittel der deutschen Soldaten im ersten Weltkrieg mit ähnlicher Außenform. Aber auch der Name „Chausseewanze" machte die Runde. Eine satirische Beschreibung war in aller Munde:
„Zwei Kilo Blech, ein Kilo Lack,
fertig ist der Hanomag."
Es handelte sich um einen Zweisitzer mit Pontonkarosserie, 10 PS-Motor und 500 ccm Hubraum, die eine Höchstgeschwindigkeit von 60 kmh ermöglichten. Der Benzinverbrauch auf 100 km lag bei vier Litern, die Kfz-Steuer betrug 75 Mark. Von diesem Kleinwagen liefen bei der Hanomag täglich 80 Stück vom Band. In einer Zeitungsannonce der Firma Carl G. Roehrs in Hannover (Schillerstraße Nr. 32) wurde er als „offener Sportswagen" für 1.993 Mark angeboten, dazu ein Abzahlungsangebot mit 450 Mark Anzahlung und Monatsraten von 100 Mark. Bis 1928 wurden insgesamt 15.775 Stück gebaut. Heute ist sich die Autowelt darüber einig, dass es sich im Sinne des Wortes um den ersten Volkswagen gehandelt hat. Warum er nicht die Erfolge des späteren VW-Käfer erreicht hat, bleibt selbst den Fachleuten ein Rätsel. Unverständlich bleibt auch, warum die Produktion bei der Hanomag eingestellt und stattdessen zusätzliche Mittelklassewagen produziert wurden. Noch heute kann man „ihn" gelegentlich auf Ausstellungen und Oldtimer-Rallyes sehen, bestimmt aber im Historischen Museum in Hannover.
Im Jahre 1926 wurde Bethel Henry Strousberg von der hannoverschen Stadtverwaltung doch noch rehabilitiert, indem eine Querstraße zwischen der Göttinger und der Ricklinger Straße nach ihm benannt wurde. Weil Henry Strousberg als Jude geboren war, benannten sie die Nazis 1935 in Kettlerstraße um, nach dem Gründer des Statistischen Bundesamtes in Hannover und des Niedersächsischen Heimatbundes. Seit 1945 heißt sie wieder Strousbergstraße.
Die Strousbergstraße (siehe Straßenschild oben rechts) zweigt von der Göttinger Straße auf Höhe der U-Boot-Halle (links) ab.
[Foto 2011: Michael Jürging]
Die Rückbenennung in Strousbergstraße, wo meine Eltern - nach der Ausbombung im Oktober 1943 - wieder von 1946 bis 1960 gewohnt haben, hat die Arbeitersiedlung „Klein Rumänien" nicht mehr miterlebt. Nachdem ihr Abriss schon zu Beginn der Nazizeit im Jahre 1933 beschlossen worden war, weil man das Gelände für Rüstungsbauten verplante, war es dann 1937 soweit. Eine geschichtsträchtige Zeit von 69 Jahre ging zu Ende. Viele der letzten Einwohner, darunter auch meine Großeltern, machten den Umzug mit der Niedersächsischen Baugesellschaft zum Ricklinger Stadtweg mit. Wie zum Hohn schrieb damals die werkseigene Zeitung der Hanomag eine völlig neue Version der Entstehungsgeschichte. Die Gründung „Klein Rumäniens" wurde einfach von 1869 auf 1871 verlegt und als Bauherr die Maschinenfabrik benannt. Von Bethel Henry Strousberg stand da kein einziges Wort.
Auch nach 1945 ist der Name Strousberg nicht entsprechend gewürdigt worden. Man hat zwar die Umbenennung der Strousbergstraße rückgängig gemacht, aber - so schreibt Wolfgang Voigt in seinem Buch vom „Eisenbahnkönig" - es war lediglich der Ausdruck eines administrativen Wiedergutmachungsaktes, der auch aus der Adolf-Hitler-Straße in der hannoverschen Innenstadt wieder die Bahnhofstraße machte.
Bethel Henry Strousberg war ein Pionier, der mit seinen Ideen seiner Zeit weit vorauseilte.
Quellen
BUSCHMANN, Walter (1981): Linden. Geschichte einer Industriestadt im 19. Jahrhundert. - Hildesheim.
EKERMANN, Erik (1990): Ausstellungskatalog zur Weltausstellung 1990, Einführung. - Hrsg.: Förderverein zur Errichtung des Museums der Industrie und Arbeit in Hannover e.V.
ENGEL, Günther (1969): Die Eisenbahn in Hannover. - Eppstein im Taunus.
ENGELKE, Bernhard (1910): Lindener Dorfchronik. - Hannover.
FELDMANN, Friedrich (1952): Geschichte des Ortsvereins Hannover der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. - Hannover.
GOTTWALDT, Alfred B. (1990): Ausstellungskatalog zur Weltausstellung 1990, Schienenverkehr. - Hrsg.: Förderverein zur Errichtung des Museums der Industrie und Arbeit in Hannover e.V.
HANOMAG AG (1988): Über 150 Jahre Made in Germany. - 5. Auflage, Hannover.
KNOCKE, Helmut & Hugo THIELEN (2007): Kunst- und Kulturlexikon Hannover. - 4. Auflage, Hannover.
MLYNEK, Klaus & Waldemar RÖHRBEIN (2009): Stadtlexikon Hannover. - Hannover.
MUNDHENKE, Herbert & Arnold JACOB (1965): Festschrift 75 Jahre Lindener Volksbank. - Hannover.
SCHWANITZ, Dietrich (1999): Bildung. Alles, was man wissen muss. - Frankfurt/Main.
TREUE, Wilhelm (1956): Egestorff. - Bedeutende Niedersachsen, Heft 4, Hannover.
TASCH, Dieter (1999): Kommissbrot - eine Legende aus Hannover. - Neue Hannoversche Presse vom 11.12.1999.
VOIGT, Wolfgang (1980): Der Eisenbahnkönig oder Rumänien lag in Linden. - München.
Diverse Adressbücher von Hannover und Linden
[Eingestellt am 07.06.2011; zuletzt geändert am 23.01.2016]
Gebäude, Institutionen, sonstige Einrichtungen
- Klein Rumänien, Göttinger Straße, 30449 Hannover (heute: U-Boot-Halle)