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Weihnachten 1918. Heimkehr der geschlagenen Truppen, Almosen für die Armen
von Heiko Arndt
I. Empfang in Hannover und Linden
Als der Große Krieg zu Ende war – im Herbst und Winter 1918/19 –, strömten Millionen deutscher Soldaten der Heimat zu. Sie fuhren mit der Bahn oder marschierten zu Fuß, sie führten Pferde, Waffen, Ausrüstung, den Tross mit sich, sie bildeten einen riesigen Heerzug. Viele kamen in der Advents- und Weihnachtszeit nach Hause, andere schafften es erst später. Einschlägige Beschreibungen zur Rückkehr der Truppen auch nach Hannover und Linden findet man in den Regimentsgeschichten der Offiziere, großenteils sind sie in den 1920er und 1930er Jahren erschienen. Ebenso haben die Zeitungen manches dazu berichtet.
Heimkehr der "Scharnhorster" (Artillerie) nach Hannover am 8. Januar 1919, hier auf dem Waterlooplatz
[Sammlung Arndt]
Sehr kritisch, ja erbittert erinnerte der Hauptmann der Reserve Wilhelm Kellinghusen den Empfang des Reserve-Infanterieregiments 73 am 23. Dezember:
"In Linden wurden wir gegen Mittag bei der Hanomag von einer Musikkapelle und unseren beiden Bataillonsfahnen, die im Laufe des Krieges auf Anordnung der O. H. L. [Oberste Heeresleitung, H. A.] nach Hause geschickt waren, weil sie im Stellungskampfe ihre ehemalige Aufgabe nicht mehr erfüllen konnten, empfangen. Dann ging es mit Musik und klingendem Spiel zum Rathaus von Hannover, von dem noch immer die rote Fahne wehte. Hier begrüßte uns das neue Oberhaupt der Stadt, der Sozialdemokrat Leinert. Er hatte die Unverfrorenheit, uns zu sagen, daß wir aus einem geknechteten Deutschland hinausgezogen wären und jetzt heimkehrten in ein 'schöneres, freies Vaterland'. […] Wäre ich bei dieser geradezu hohnsprechenden Begrüßung noch der Führer des Regiments gewesen, so wäre ich nach dieser Äußerung sofort mit dem Regiment abmarschiert und hätte Leinert wie einen begossenen Pudel auf der Rathaustreppe stehen lassen. So mußte ich mich darauf beschränken, ihm wegen seiner Unverfrorenheit glatt ins Gesicht zu lachen, daß er knallrot wurde. Mein braver Lt. Herde neben mir tat das gleiche. […] Ich kann nicht sagen, daß dieser Einzug irgend etwas Erhebendes an sich hatte und daß er den Taten des tapferen Regiments während der vier Kriegsjahre auch nur im geringsten Maße gerecht wurde." [1]
Ganz anders las sich das oft in den Zeitungen, so im Lindener Lokal-Anzeiger vom 24. Dezember für dasselbe Regiment:
"Unter dem Geläute der Glocken zog am Montag mittag das Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 73, von Linden kommend, hier [in Hannover, H. A.] ein und wurde am Rathause von Oberbürgermeister Leinert begrüßt. Das Regiment zählt nur noch etwa 300 Mann; es hat bei der letzten Offensive im Westen noch 1000 Mann Gasvergiftungsverluste gehabt, und ein großer Teil der Mannschaften war inzwischen auf dem Rückmarsch schon entlassen. Auf das vom Regiment der Heimat Hannover dargebrachte Hurra dankte der Oberbürgermeister mit einem von der angesammelten Menge freudig aufgenommenen Hoch auf das Reserve-Regiment Nr. 73."
43 Tage lang war diese Einheit zu Fuß zum Ausgangsstandort zurückmarschiert, wobei sich zum "tiefsten Schmerz" des Divisionskommandeurs etliche "ehr- und pflichtvergessene Angehörige" schon auf dem weiten Weg von Charleroi in Belgien her eigenmächtig von der Truppe entfernt hatten. [2] Die Route führte hier zuletzt durch das Calenberger Land, über die Göttinger Straße und den Schwarzen Bären bis nach Hannover, in die Schule in der Kestnerstraße. Sonst führte sie gemeinhin in die Kasernen, so am Waterlooplatz und am Welfenplatz. Nur teilweise kündigten die Zeitungen die Ankunft der Einheiten vorher an, das dürfte Unterschiede in der Begrüßung erklären – abgesehen von wechselnden Rednern und Örtlichkeiten. Überdies waren der Bevölkerung einige ältere Regimenter besser vertraut als etwa die erst im Krieg neugebildeten Truppenteile, sie vereinten viele Hannoveraner und Lindener und interessierten darum stärker. [3]
Rückmarschweg hannoverscher Truppen, hier nur diesseits des Rheins
[Prietze, Hermann Albert; Wehl, Wilhelm (Schriftleitung): Die Geschichte des RIR 73. Hannover 1940. S. 709]
In Linden spielte sich der Empfang der Truppen wie schon ihre Verabschiedung 1914 vor allem am Schwarzen Bären ab, auch hier unter dem Klang von Kirchenglocken und Trompeten. Dem Füsilierregiment 73 attestierte der Lindener Lokal-Anzeiger vom 17. Dezember, es sei "stürmisch begrüßt" worden: "Alle Straßen in Linden, namentlich der Platz vor dem 'Schwarzen Bären' waren mit einer Menschenmenge dicht besetzt, welche die heimkehrenden ruhmgekrönten Krieger mit Zurufen herzlich willkommen hieß und ihnen Blumen und Tannenzweige überreichte." Die evangelischen Kirchen in Linden setzten den sonntäglichen Hauptgottesdienst am 15. Dezember zur besonderen Begrüßung der Soldaten an; die katholische Godehardikirche zog eine Woche später mit einem Dankgottesdienst nach; die Bennokirche sah abendliche Andacht und Predigt an den letzten drei Tagen des Jahres dafür vor. Damit ist die eingangs zitierte Sichtweise des Hauptmanns Kellinghusen sicher nicht repräsentativ, nicht für die Truppe insgesamt und nicht für die Regimentsliteratur im Hinblick auf Hannover und Linden. [4] Dass allerdings gerade Offiziere sich mit den politisch veränderten Verhältnissen in der Heimat nicht anfreunden mochten, sollte die Republik noch schwer belasten.
Empfang des Füsilierregiments 73 auf dem Waterlooplatz am 16. Dezember 1918
Vertreter der Stadt Hannover, des Arbeiter- und Soldatenrats und des Vereins ehemaliger 73er sprechen zum Füsilierregiment
[Sammlung Arndt]
II. Bei armen Leuten
Die Adventszeit und das Weihnachtsfest 1918 standen hier nicht nur für die Soldaten noch unter dem Eindruck des Krieges. Besondere Aufmerksamkeit galt nun den Versehrten, den Witwen und Waisen, die die Wohltätigkeit der "Volksgemeinschaft" (wie das damals schon hieß) erfahren sollten. Den ganzen Krieg hindurch war das karitative Engagement von bürgerlichen Vereinen und Kirchen ein oft behandeltes Thema an der Heimatfront gewesen; es gehörte zur Selbstvergewisserung auch über die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, über Führungsrollen und ihre Legitimierung, erst recht in jeder Weihnachtszeit. Freilich ging das mit einer gewissen Doppelmoral einher. Denn gerade die Kreise hinter der organisierten Wohltätigkeit waren maßgebliche Träger des wilhelminischen Nationalismus. Sie hatten – nicht erst seit dem "Augusterlebnis" 1914 – die Stimmung geschürt, "eine Welt von Feinden" beschworen und dem Militarismus den Boden bereitet, sie hatten vom Krieg profitiert, Geschäfte mit ihm gemacht, hatten ihn womöglich begrüßt und bejubelt, hatten ihn religiös von den Kanzeln gerechtfertigt und ihren Gott für die deutschen Militärs rekrutiert. – Gleichzeitig hieß es aber, die Folgen davon barmherzig zu mildern.
Der Fürsorgeverein für Kriegsbeschädigte Hannover veranstaltete seine Weihnachtsfeier 1918 in der Innenstadt, in der Andreaestraße. Nicht alle konnten hier teilnehmen. Die es am härtesten getroffen hatte, massiv ins Gesicht, waren so entstellt, dass sie in besonderen Einrichtungen für sich blieben. Bei dieser Feier gab es einen Christbaum und Geschenke. Manche der Anwesenden konnten sie nur noch fühlen, nicht mehr sehen. So überlieferte der Lindener Lokal-Anzeiger am 24. Dezember:
Soldaten, teilweise beinamputiert, im Lazarett Kirchrode
[Sammlung Arndt]
"Justizrat Dr. Rathgen begrüßte die erschienenen Kriegsbeschädigten, unter ihnen Blinde mit Führerhunden, und an schweren Nervenleiden Erkrankte in schützender Begleitung, mit herzlichen Worten des Dankes, aber auch der Mahnung, durch den Willen zur Arbeit bald wieder vollwertige Glieder der deutschen Volksgemeinschaft zu werden. Alsdann sprachen Pastor Dr. Lohmann und Militärgeistlicher Dr. Bydelek erhebende und zu Herzen gehende Worte. Annähernd 50 Kriegsbeschädigte konnten beschert werden und erhielten eine Gabe von 40–70 M, je nach der Anzahl der zu versorgenden Kinder, 60 Zigaretten, ein Päckchen Tabak und andere nützliche Kleinigkeiten. Die schlichte, dem Ernst der Zeit angepaßte Feier, an der sich eine Anzahl führender Mitglieder des Vereins beteiligten, nahm einen würdigen und eindrucksvollen Verlauf."
Auch in Linden widmete sich eine rührige Szene der Fürsorge. Regelmäßig taten sich die Frauen einflussreicher Männer auf diesem Gebiet hervor, nicht zuletzt "Frau Oberbürgermeister Lodemann". Es gab reichlich zu tun für sie, schließlich litt hier ein großer Teil der zahlenstarken Arbeiterschaft unter Armut und Not, unter Hunger und Kälte und berüchtigten Ersatzmitteln, Kleidung aus Papierfasern und Schuhsohlen aus Holz, dies wohlgemerkt nicht erst gegen Ende des Krieges. Im Kontrast dazu bestand jedoch am selben Ort und zur selben Zeit eine Welt, in der es Geld gab für Waren aus dem Schleichhandel, für Gemälde in Ausstellungen und die Auftritte von Sopranistinnen, für ein Gymnasium, in dem der Filius den Horaz auf Lateinisch zu pauken hatte. Es verstand sich von selbst, dass die Privilegierten aus solchen Kreisen den Ärmsten das Fest ein wenig aufbesserten.
Eine vergleichsweise große Weihnachtsfeier fand in der Mechanischen Weberei statt, zumal dort ein Lazarett und außerdem eine Kinderkrippe untergebracht waren. Generaldirektor Uebelen, seine Gemahlin, ein weiterer Direktor, Beamte der Weberei, ferner ein Sanitätsrat und ein Schlosspfarrer fanden sich nun zusammen und hatten auch die Angehörigen der Kinder eingeladen:
"Unter Leitung von Schwester Wilhelmine und der Kinderlehrerin Frl. Remmers zogen 160 Kinder der Krippe in wohlgeordnetem Zuge in den mit zwei prachtvoll geschmückten, in hellstem Lichterglanze erstrahlenden Tannenbäumen und der Krippe festlich ausgestatteten Saal. Dann wurde von den Kleinen und Kleinsten ein hübsches Weihnachtsfestspiel, in dem die Nöte der jetzigen Zeit und das feste, unverzagte Vertrauen auf den Allmächtigen ihren Ausdruck fanden, zum Vortrag gebracht. Gemeinsame Gesänge verschönten die Feier. Zum Schluß erschien der Weihnachtsengel mit Knecht Ruprecht, die unter den Kindern Äpfel und Nüsse verteilten. Ehe die Bescherung vor sich ging, nahm Schloßpfarrer Wiebe mit den Kleinen die 'Geburt Christi' durch; überraschend war die Kenntnis der Kleinen, und die von dem Geistlichen gestellten Fragen wurden alle prompt und sicher beantwortet. Nachdem noch der Direktion der Weberei der Dank für die Feier ausgesprochen war, erfolgte die Bescherung der Kinder, die auch diesmal wieder sehr reich ausgefallen war. – Im Anschluß daran fand die Bescherung von 11 Kriegerwitwen mit ihren Kindern, deren Ernährer, Angehörige der Mechanischen Weberei, auf dem Felde der Ehre gefallen waren, statt. Am Montag nachmittag wurden vom Lazarett der Mechanischen Weberei 70 verwundete Soldaten reich beschert. An dieser Feier nahmen Kommerzienrat Uebelen und Direktor Rothert mit Gemahlinnen, Frau Oberbürgermeister Lodemann, Oberpräsidialrat Dr. Kriege, Geh. Sanitätsrat Dr. Bayer und Beamte der Mechanischen Weberei teil. Auch Angehörige der Verwundeten waren erschienen. Soweit die Verwundeten dazu imstande waren, hatten sie auf Stühlen um einen kerzenstrahlenden Weihnachtsbaum Platz genommen, die übrigen lagen in ihren Betten. Harmoniumspiel leitete die Feier stimmungsvoll ein. Dann verlas Schloßpfarrer Wiebe das Weihnachtsevangelium und hielt im Anschluß daran eine eindrucksvolle Rede. Gesang von Weihnachtsliedern erhöhte die festliche Stimmung." [5]
Zeitgemäße Werbeanzeige
[Lindener Lokal-Anzeiger, 21. 12. 1918]
Das Weihnachtsfest 1918 fügte sich in eine Gesellschaft im Umbruch, in der tiefgreifende Irritationen und Sorgen über die Zukunft nur zu verständlich waren. Dennoch bestand die alte Ordnung in vielen Dingen fort. Das zeigte eindringlich die machtgeladene Inszenierung in der Mechanischen Weberei: mit einer wohlgefällig beachteten, disziplinierten Kinderschar in Kolonne, mit Invaliden und Witwen, die der Oberschicht dankten.
Unterdessen erinnerten in der Zeitung nur noch vereinzelte Todesanzeigen an die Gefallenen. Auch ohne die gewohnte Zensur herrschte dort Sprachlosigkeit, da drehten sich Phrasen und Klischees und Zerrbilder um die Erfahrung extremster physischer Gewalt, wie sie die Männer draußen an der Front jahrelang mitgemacht hatten.
Anmerkungen:
[1] Kellinghusen, Wilhelm: Kriegserinnerungen. Bergedorf 1933. S. 773 f.
[2] Prietze, Hermann Albert; Wehl, Wilhelm (Schriftleitung): Die Geschichte des RIR 73. Hannover 1940. S. 712.
[3] Das betraf von der Infanterie: die "73er" und "74er", von der Kavallerie: die Königsulanen, von der Artillerie: die "Scharnhorster".
[4] Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hrsg.): 1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution. Berlin 2018. S. 54. Auch im Offizierskorps dachten nicht alle zurück im Zorn an Hannover und Linden. Die entsprechende Arbeit zum Infanterieregiment 74 etwa erwähnt "laute[n] Jubel" und "fröhliche[s] Winken der Bevölkerung" für den Tag der Heimkehr, den 26. Dezember. In diesem Fall dankte Major Funck "bewegten Herzens für den herzlichen Empfang". Vgl. Gabriel, Kurt: Das 1. Hannoversche Infanterie-Regiment Nr. 74 im Weltkriege. Hannover 1931. S. 480.
[5] Lindener Lokal-Anzeiger, 27. 12. 1918.
[eingestellt am 19. 12. 2021, geändert am 7. 3. 2023]