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Linden und der Nationalsozialismus: Der Kampf um die Straße - bis Juli 1932
von Heiko Arndt
Das "Posthorn" in der Deisterstraße: Ort heftiger Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und ihren Gegnern
[Quelle: Nachlass Werner Krämer]
Was ist die Macht? Der Soziologe Max Weber verstand sie als "Chance", "den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen". Ein anderer Soziologie, Michel Foucault, hielt dagegen: "Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht." Die Nationalsozialisten verstanden die Macht als so etwas wie eine Substanz, als etwas, das man haben kann. So sprachen sie von der "Machtergreifung" und bezeichneten damit den Übergang zum Regime, der sich insbesondere in der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 manifestierte.
Ein wichtiges Mittel dieser "Machtergreifung" war der Kampf um die Straße. Er zeigte die Kräfteverhältnisse an. Er diente den SA-Leuten, oft arbeitslosen jungen Männern, oft abstiegsgefährdeten Kleinbürgern, zur Selbstbestätigung, richtete ihre Unzufriedenheit, ihre jugendliche Energie auf ein Ziel aus. Straßenkampf zeigte die "Bewegung" an, Aktivität, Tempo, feste Entschlossenheit. Überhaupt setzten die Nationalsozialisten stark auf Symbolik und hier darauf, ihren Machtanspruch sinnlich erfahrbar zu machen, anzusehen und anzuhören, nah bei den Menschen. Auf der Straße präsentierten sie sich wesentlich auch in Aufmärschen, präsentierten militärähnliche Ordnung, disziplinierte Männerkörper in Uniformen und Stiefeln. Diese Formensprache korrespondierte mit verbreiteten Wertvorstellungen unter den Deutschen, die noch vom militaristischen Kaiserreich geprägt worden waren.
Es war Strategie, durch "revolutionäre" Gewalt auf sich aufmerksam zu machen. Nationalsozialisten schürten Unruhe, stellten das staatliche Gewaltmonopol brutal in Frage, forcierten die allgemeine Verunsicherung, das Chaos, um das verhasste - und symbolschwache - "System" kollabieren zu lassen. Viele Deutsche, autoritätsfixiert aus Gewohnheit, hatten nach Jahren genug davon, sehnten sich nach starker Führung, nach Ruhe und Ordnung. Der gesteigerte Terror nach dem Januar 1933, das enthemmte, mörderische Austoben an den "Roten" lähmte dann die Opposition und brachte viele dazu, sich widerwillig in eine neue Ordnung zu fügen.
Auch auf den Straßen Hannovers spielte sich das jahrelang ab. Dabei bedeutete das rote Linden, politisch dominiert von Sozialdemokraten, für die Nationalsozialisten ein ganz besonderes Angriffsziel. Das war schwieriges Terrain, aber umso größer waren der Ehrgeiz und schließlich auch der Erfolg, sich hier durchzusetzen: vorzuführen, dass Nationalsozialisten auch in der "Kommune" die Macht haben.
Schlacht am Schwarzen Bären
Einen ersten größeren Vorstoß nach Linden hinein unternahmen die Nationalsozialisten, als sie am 14. Oktober 1929 eine Veranstaltung im Lokal "Posthorn" (Deisterstraße 66) abhielten. Als Redner geladen war NSDAP-Gauleiter Josef Wagner aus Bochum, sein Thema: "Der Kampf gegen Young - eine Sache des deutschen Arbeiters". Die Regelung deutscher Reparationsleistungen nach dem Ersten Weltkrieg lieferte hier die Vorlage, gegen den Staat zu hetzen.
Blick auf die Ihmebrücke und den Schwarzen Bären. Um 1930 spielten sich hier wüste Szenen ab.
[Quelle: Nachlass Werner Krämer]
Den Nationalsozialisten war klar, welcher Empfang ihnen in Linden blühte; darum hatten sie polizeilichen Schutz erbeten und auch bekommen. Vor dem "Posthorn" sammelte sich eine große Menschenmenge, die die Eindringlinge geräuschvoll ablehnte und die "Internationale" sang. Beim Abmarsch der Nationalsozialisten mitten in der Nacht über die Ihmebrücke kam es zum Höhepunkt der Auseinandersetzung, einer regelrechten Schlacht. Die Polizei ging mit Pferden und Knüppeln hart gegen die Demonstranten vor, um die Brücke abzuriegeln und die Rechtsradikalen ziehen zu lassen. Dabei entstanden schwere Verletzungen, und als sich das Getümmel auflöste, lagen Menschen am Boden, Hüte und Mützen verteilten sich über den Platz vor dem Schwarzen Bären. Und vor allem: Der Wachtmeister Walter Meidt, erst 20 Jahre alt, hatte einen tödlichen Messerstich erhalten. Es wurde nie sicher geklärt, wer der Täter war, obwohl viel später die nationalsozialistische Justiz einen Kommunisten dafür einsperrte - offenbar hatte ein Antifaschist im Affekt gehandelt.
Der "Volkswille", die hannoversche SPD-Zeitung, verlangte Schutz der eigenen Leute gegen die Nationalsozialisten, empörte sich darüber, dass diejenigen behütet werden, die die Republik verleumden und auf ihren Sturz hinarbeiten. "Wollen die Organe des Staates noch länger mit verschränkten Armen zusehen, wie eine Rotte politischer Vagabunden die staatserhaltenden Kreise der Bevölkerung terrorisiert?"
Der 6. und 7. Juli 1932
Einen Radikalisierungsschub brachte der Wahlkampf zum Reichstag, beginnend am 1. Juli 1932. In den Parteien rumorte es, und auf den Straßen kam es laufend zu Demonstrationen und Zusammenstößen. Es war ein blutiger Monat bis zur Wahl am 31., allein in Preußen gab es 86 Todesopfer. In Linden veranstaltete das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, eine SPD-nahe und militante Formation zum Schutz der Republik, am Abend des 6. Juli einen seiner vielen Umzüge, denn in den Wochen zuvor waren kleinere Gruppen von Nationalsozialisten wiederholt in die Deisterstraße vorgedrungen. Da hieß es, eindrucksvoll Zeichen zu setzen, und Tausende marschierten.
In den Zeitungen stand ausführlich nachzulesen, durch welche Straßen dieser Umzug sich bewegte - er deckte in der Ausdehnung das Revier als Ganzes ab, verlief kreuz und quer mitten hindurch. Musik spielte, Fahnen der Linken wurden vorbeigetragen, während an den Straßenrändern die Massen standen und mit emporgestreckter Faust den Kampfgruß der Sozialdemokraten riefen: "Freiheit!" Der Zug begann am Küchengarten und endete nach mehreren Stunden am Deisterplatz, wo er an der Ortsleitung des Reichsbanners vorbeimarschierte. Am 6. Juli bestätigte sich in Linden exakt das Schreckgespenst der Nationalsozialisten: die "Kommune". Dieses Milieu war in weitem Umkreis ohnegleichen.
Am 7. Juli marschierte ein Großaufgebot von SA und SS, begleitet von den "zündenden Weisen" ihrer Kapellen, durch Hannover. Der Zug begann am Welfenplatz in der List und endete am relativ nahegelegenen Moltkeplatz. Allerdings führte der Weg weit durch Hannover und bewusst an Orten vorbei, wo er größere Provokation bedeutete. Er verlief durch die Celler Straße, berührte dort fast das Gewerkschaftshaus in der Nikolaistraße, verlief weiter zum Klagesmarkt, mithin zu dem Ort, an dem die organisierte Arbeiterschaft sich traditionell zu großen Kundgebungen versammelte. Von dort aus ging es weiter bis kurz vor die Ihmebrücke, danach in Richtung Aegi. Damit war der vom Ausgangspunkt am weitesten entfernte Punkt mit ausgeprägtem Symbolcharakter die Ihmebrücke, die Grenze zu Linden. Dort stand den etwa 1.500 Nationalsozialisten eine Menschenmenge entgegen: Steine flogen.
SA am Welfenplatz
[Quelle: Sammlung Arndt]
Ungeachtet dessen erfuhr die uniformierte Kolonne in anderen Gegenden Hannovers durchaus Zuspruch; das signalisierte das Publikum am Wegesrand, das signalisierte die Dichte von Hakenkreuzfahnen in den Fenstern. Immerhin bekam ja die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 rund 40 Prozent der Stimmen in Hannover, etwa doppelt so viel wie zuvor, übertraf alle anderen Parteien.
Die Niedersächsische Tageszeitung (NTZ), Organ der NSDAP, gab sich hochzufrieden mit dem Tag: "Hannover hat aufgehorcht. Der eherne Marschtritt von Adolf Hitlers braunen Bataillonen hat manchen Lauen wachgerüttelt, aber vor allem jenen Volksverderbern und Volksverrätern, die seit 1918 das deutsche Volk in ein unendliches Elend stürzten, gezeigt, daß wir da sind, daß die Straße uns gehört und daß wir uns unser Recht auf die Straße niemals nehmen lassen."
Ebenfalls am 7. Juli hielt die NSDAP ihre mittlerweile dritte Versammlung im "Posthorn" ab. Optimistisch plante man dort sogar schon regelmäßige Termine für die Zukunft. Im Saal sprach der Pg. Matzigkeit, ein ehemaliger Arbeiter der Hanomag, und klagte, dass seine früheren Kollegen vor der Tür bleiben.
Draußen schimpften Gegendemonstranten auf die Partei und die schützende Polizei, gingen handgreiflich auf sie los. Bessere Angriffsgelegenheit sollte der Abmarsch nach Veranstaltungsende bieten, darum wurde für Dunkelheit gesorgt. Etwa im Bereich zwischen "Posthorn" und Ihmebrücke fielen plötzlich die Gaslaternen und elektrischen Lampen aus. Als der Parteitrupp abzog, setzte die Polizei Knüppel und Schusswaffen ein. Auf der Gegenseite verzeichnete sie Steine, Blumentöpfe, ein Messer, mehrere Schüsse. Schwerere Verletzungen scheint es diesmal nicht gegeben zu haben - erstaunlicherweise.
Der erklärte Anspruch der Nationalsozialisten, ihnen gehöre die Straße, wurde in Linden im frühen Juli 1932 klar widerlegt. Von Hannover ist das so nicht zu sagen. - Und ein Weiteres deutet sich hier vielleicht an: Die Macht ließ sich nicht "ergreifen", auch nicht durch die Wahl einer Partei "übertragen", sie wurde gemeinsam und fortwährend ausgehandelt, von vielen.
[Eingestellt am 15. 08. 2009, geändert am 19. 07. 2021]