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Heinrich Nürnberger, ein Mann zwischen Beruf und Berufung
von Michael Jürging
Bisher konnte nur ein Foto von Heinrich Nürnberger ermittelt werden. Es stammt aus einem Zeitungsartikel und hat eine sehr mäßige Druckqualität.
[Quelle: Kurier-Tageblatt vom 19.06.1941]
Am 19. Juni 1941 erschien im hannoverschen 'Kurier-Tageblatt' ein Artikel mit der seltsamen Überschrift "Der Mann, den Julius Caesar lobte". Gemeint war Heinrich Ferdinand Nürnberger, geboren 1866 im thüringischen Lossa als zwölfter Sprössling einer kinderreichen Familie und bei Erscheinen des Zeitungsartikels 75 Jahre alt. Der Jubilar hatte sich jedoch noch nicht aufs Altenteil begeben; vielmehr wurde er in besonderen Angelegenheiten zu Rate gezogen. Denn Heinrich Nürnberger war seinerzeit, so das 'Kurier-Tageblatt', "der einzige bei der Industrie- und Handelskammer Hannover beeidigte und öffentlich angestellte Sachverständige für das Spreng- und Schießwesen sowie für Brand- und Explosionsursachen aller Art".
Hierbei ging es sowohl um militärische als auch um zivile Fälle wie Großbrände, Explosionen und Sprengarbeiten. Im persönlichen Lebenslauf Heinrich Nürnbergers liegt die Wurzel seines Tätigkeitsfeldes in seiner Militärausbildung zum Oberfeuerwerker und Offizierstellvertreter bei einer Munitionsverwaltung in den Jahren 1887/88.
War Heinrich Nürnberger also ein Kommisskopp? Weit gefehlt! Obwohl das Faible fürs Militärische in seiner Vita häufig zum Vorschein kommt, war er vielseitig beschäftigt und hat sich in seiner Wahlheimat Linden für etliche Projekte engagiert.
Der Küchengartenpavillon ('Belvedere') wurde 1925 auf Initiative von Heinrich Nürnberger zur "Kriegergedächtnisstätte" für die Lindener Gefallenen des ersten Weltkriegs ausgebaut.
[Quelle: Nachlass Werner Krämer]
Sein Name steht vor allem mit dem Küchengartenpavillon in Verbindung, genauer gesagt mit dessen Wiederaufbau auf dem Lindener Bergfriedhof um 1914 und mit der Einrichtung einer "Kriegergedächtnisstätte" im Jahre 1925. Jonny Peter und Wilfried Dahlke vom Verein Quartier e.V. haben dazu umfassend recherchiert. Ihre Ergebnisse können im Internet unter http://www.quartier-ev.de/kp.php und in der reich bebilderten Broschüre "Der Küchengartenpavillon in Linden" (2003) nachgelesen werden.
Für die "Kriegergedächtnisstätte" im Küchengartenpavillon hatte der Welfenherzog Ernst August (2. von rechts) einige Einrichtungsgegenstände zur Verfügung gestellt. Links neben ihm steht seine Frau, Herzogin Viktoria Luise. Bei den beiden äußeren Personen könnte es sich um das Ehepaar Heinrich und Anna Nürnberger handeln. Das Foto wurde wahrscheinlich zur Einweihungsfeier am 17. Mai 1925 aufgenommen.
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
Zu welchen kreativen und organisatorischen Leistungen Heinrich Nürnberger fähig war, beleuchtet aufs Schönste die nachfolgende Geschichte. Sie wurde in der 'Illustrierten Rundschau' vom 9. August 1913 veröffentlicht, wobei der Artikel wahrscheinlich aus der Feder des Protagonisten höchstpersönlich stammt.
Unter dem Titel "Ein alter Lindener Veteran aus großer Zeit" berichtet der Autor von einem Lokomotiv-Transportwagen der HANOMAG, der wegen seiner ungewöhlichen Tragkraft von 50 Tonnen im deutsch-französischen Krieg 1870/71 zur Beförderung schwerster militärischer Lasten eingesetzt wurde. Der Wagen hieß bei den Soldaten "großer Onkel Egestorff", weil er von Georg Egestorff eigens konstruiert worden war - ursprünglich zu zivilen Zwecken, versteht sich. Bei der Eroberung von Paris erbeuteten die deutschen Truppen eine gewaltige französische Kanone. Die hörte auf den zärtlichen Namen "La belle Josephine du Mont Valérien", weil sie einst Napoleon Bonaparte seiner gleichnamigen ersten Ehefrau zum Geschenk gemacht hatte. Als es nun darum ging, die schöne Josephine als Kriegsbeute von Paris nach Berlin zu schaffen, versicherte man sich beim deutschen Militär der Transportkraft des "großen Onkel Egestorff aus Linden". Nachdem die Kanone wohlbehalten in Berlin abgeliefert worden war, nahm der "Onkel" wieder seinen gewohnten Dienst als Lokomotiventransporteur bei der HANOMAG auf.
Im Jahre 1871 wurde die französische Riesenkanone "La belle Josephine" auf einem Lokomotiven-Transportwagen der HANOMAG als Kriegsbeute nach Berlin befördert.
[Quelle: Illustrierte Rundschau Nr. 32 vom 09.08.1913]
So weit, so gut. Nur: Niemand hatte die denkwürdige Begebenheit fotografisch dokumentiert. Doch dann kam Heinrich Nürnberger! 42 Jahre nach Ende des deutsch-französichen Krieges lieh er bei der HANOMAG den Original-Transportwagen aus, der dort immer noch im aktiven Einsatz stand. Dann besorgte er mit Genehmigung des Kommandierenden des X. Armeekorps, General von Emmich, 24 kriegsmäßig bespannte Pferde samt Reitern beim Feldartillerie-Regiment von Scharnhorst. Das entsprach genau der damaligen Transportbespannung aus dem Jahr 1871. Und schlussendlich wurde der Lindener Fotograf August Harre beauftragt, die wiedererstandene Szenerie auf Platte zu bannen.
Nun fehlte zum Rendevouz nur noch die schöne Josephine. Die aber stand unabkömmlich in der Ruhmeshalle zu Berlin. Was tat Heinrich Nürnberger? Er zeichnete die Kanone eigenhändig und höchst kunstgerecht auf den abfotografierten Wagen auf! Mit anderen Worten: Das veröffentlichte Bild ist eine Kollage, eine technisch brillante Komposition aus nachgestellter Fotoszene und perspektivischer Zeichnung. Ihr Schöpfer war hier ganz in seinem Element.
Unter all seinen Tätigkeiten scheint für Heinrich Nürnberger jedoch ausgerechnet die eigentliche Berufsausübung eher ungeliebt gewesen zu sein. Er war Mitarbeiter der Lindener Stadtverwaltung, und zwar seit dem 1. September 1900. Über den Posten eines Magistratssekretärs arbeitete er sich letztlich zum Stadtrevisor hoch; er bewarb sich aber schon im ersten Jahrzehnt seiner Verwaltungslaufbahn wiederholt - wenn auch vergeblich - auf höhere Posten in anderen Städten.
Zu Beginn des ersten Weltkriegs meldete er sich sofort zum Heeresdienst, den er noch im August 1914 bei der Königlichen Geschossfabrik Spandau antrat. Seine Drähte nach Linden rissen aber nicht ab. Insbesondere zu Senator Leopold Fischer hat Heinrich Nürnberger offensichtlich guten Kontakt gehalten - was nicht von allen Seiten mit Wohlwollen betrachtet wurde. Ende Februar 1916 wurden Fischer und Nürnberger wegen des Verdachts der Bestechung bzw. Bestechlichkeit in Untersuchungshaft genommen. Der Hintergrund: Leopold Fischer hatte im Januar 1915 in Linden ein Füllwerk für Munition, die 'Norddeutschen Geschosswerke' gegründet. Um an Aufträge des Militärs zu kommen, verschaffte er sich von Heinrich Nürnberger einschlägige Informationen.
Das Kriegsgericht sprach die beiden Angeklagten im Oktober 1916 frei, ebenso das Oberkriegsgericht im Februar 1918 in der Berufungsverhandlung. Die Militärs kamen zu der Auffassung, der Informationsaustausch zwischen Fischer und Nürnberger sei im Kern ein Akt patriotischer Pflichterfüllung gewesen, um die Munitionsversorgung des deutschen Heeres zu verbessern. Gleichwohl hatte die Angelegenheit ein "Geschmäckle". Der Lindener 'Lokal-Anzeiger' und der 'Hannoversche Kurier' berichteten unter dem 5. März 1918 von dem Freispruch, gaben aber nach Meinung von Heinrich Nürnberger den Tenor des Urteils nicht so richtig wieder. Darüber beklagte er sich einen Tag später schriftlich beim 'Lokal-Anzeiger' und betonte, er sei "vollständig rehabilitiert und freigesprochen".
Der Lindener Marktplatz auf einer Postkarte von 1918. Die zur Schau gestellte Kanone (siehe Kreis) sollte vermutlich die Kriegsbegeisterung der Bevölkerung schüren.
[Quelle: Sammlung Jürgen Wessel]
Im eingangs genannten Zeitungsartikel von 1941 über den Jubilar Heinrich Nürnberger findet sich zu dem Gerichtsverfahren natürlich kein Wort. Statt dessen werden die "zahlreichen Auszeichnungen" - darunter das E.K. I und der Schlesische Adler - sowie die "vielen besonderen Leistungen auf seinem Spezialgebiet" hervorgehoben. Unter anderem wird vom Dankschreiben eines Regimentskommandeurs "für die beim Rückzug 1918 bewerkstelligte Rettung von Geschützen der Artilleriereserve" berichtet. Dieser Kommandeur im Range eines Majors trug den klangvollen Namen Julius Caesar. So erklärt sich letztlich die Überschrift des Zeitungsartikels: "Der Mann, den Julius Caesar lobte".
Übrigens geht weder aus der Personalakte der Stadtverwaltung noch aus dem Geburtstagsartikel von 1941 hervor, dass Heinrich Nürnberger im ersten Weltkrieg jemals direkt an der Front eingesetzt war. Wegen seines damaligen Alters um die 50 ist das wenig wahrscheinlich.
Am 7. Januar 1919 nahm er den Dienst in der Stadtverwaltung Linden wieder auf. Nach dem Zusammenschluss von Hannover und Linden wurde er 1920 in die Stadtkämmerei Hannover versetzt, blieb aber weiterhin im Lindener Rathaus tätig. Aushilfweise war er damit beschäftigt, das Gesetz über die Entwaffnung der Bevölkerung vom 7. August 1920 zu vollziehen. Es ging um das Einsammeln von Militärwaffen, die so mancher Ex-Soldat aus dem Krieg mit nach Hause genommen hatte. Als Anreiz für die freiwillige (!) Waffenablieferung waren Prämien ausgelobt worden. Heinrich Nürnberger stellte es so an, dass er für nicht voll gebrauchsfähige Waffen und Waffenteile verringerte Prämien auszahlte. Weil er damit dem Staat erhebliche Kosten ersparte, wurde ihm zum Dank am 31. März 1921 eine Geldauszahlung von 6.000 Mark zugesprochen.
Das Lindener Rathaus blieb auch nach dem Zusammenschluss mit der Stadt Hannover im Jahr 1920 Dienstsitz der Verwaltung.
[Quelle: Nachlass Werner Krämer]
Aber damit enden auch die guten Nachrichten über seine Verwaltungsarbeit. Statt dessen gab es zunehmend Kritik an seiner laxen Dienstauffassung. Mehrfache Versetzungen innerhalb der Stadtverwaltung waren die Folge. Nürnberger, der bereits nebenbei als Sprengsachverständiger tätig war, ließ es immer mal wieder drauf ankommen. Wenn er dann von einem Vorgesetzten wegen unentschuldigter Dienstabwesenheit zur Rede gestellt wurde, parierte er mit dem Nachweis seiner jüngsten Gutachtertätigkeit als Sprengsachverständiger. Er hielt es offenbar nicht für nötig, seinen Dientsherrn darüber vorab zu informieren.
Schließlich wurde zum 1. April 1924 seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand veranlasst. In diesem Zusammenhang zitierte ein Magistrat-Schreiben vom 2. Oktober 1924 aus der Beurteilung seiner Dienstleistungen: "Nürnberger hat niemals dauernd ausreichendes Interesse für seine eigentlichen Amtsobliegenheiten gezeigt, sondern er hatte immer das Bestreben, sich auf Gebieten zu betätigen, die ausserhalb seines Amtsberufs lagen. ... Infolge dessen ist keine Dienststelle mit seinen Leistungen zufrieden gewesen, sondern jede Dienststelle hatte das Bestreben, Nürnberger wieder abzugeben. Er ist daher oft versetzt [worden]."
Möglicherweise hatte man vorher in der Lindener Verwaltung des öfteren ein Auge zugedrückt, wenn der Herr Stadtrevisor wieder einmal seinen außerdienstlichen Interessen den Vorzug gegeben hatte. Schließlich engagierte sich der Mann ja für seine Wahlheimat. Selbst der langjährige Bürgermeister Hermann Lodemann erwähnt in seinen 1939 herausgegebenen Memoiren "Im Dienste der Stadt Linden" den Namen Nürnberger im Hinblick auf den Küchengartenpavillon als lobendes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement.
Aus gesamthannoverscher Verwaltungsperspektive, also nach der Eingliederung Lindens als Stadtteil zum 1. Januar 1920, war man aber offensichtlich nicht mehr geneigt, die Eigenmächtigkeiten des Mitarbeiters einfach hinzunehmen. Nürnberger legte ohne Erfolg Widerspruch gegen seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand ein, die er für politisch motiviert hielt. Auch seine Berufung beim Landgericht wurde im November 1924 zurückgewiesen.
Dessen ungeachtet hatte er einstweilen keinen Mangel an Beschäftigung. Abgesehen von seiner Arbeit als Sachverständiger engagierte er sich jahrelang im 'Lindener Bürgerverein'. Darüber hinaus betätigte er sich von 1924 bis 1928 in der Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (Volksrechtpartei), einer Sammelbewegung von Inflationsgeschädigten. Danach war er von 1929 bis 1932 Mitglied der Deutsch Hannoverschen Partei, die den Welfen treu ergeben war. Ferner weist der Zeitungsbericht zu seinem 75. Geburtstag darauf hin, dass Heinrich Nürnberger die Ehrenpatenschaft für nicht weniger als zwölf Kinder des Saargebietes übernommen hatte.
Einzelbild aus dem Lindenpanorama von 1925 mit Blickrichtung Westen. Im Vordergrund sind die Zinnen des Aussichtsturmes auf dem Wasserhochbehälter zu erkennen. Der Fotograf hatte dort seinen Standort.
In der Bildmitte ist als gerade Straßenflucht die Linie Am Lindener Berge-Badenstedter Straße zu sehen. Die Fabriken rechts davon gehörten hauptsächlich zum Unternehmen der Gebrüder Körting. Im Hintergrund verläuft quer die Güterumgehungsbahn. Hinten am linken Bildrand liegt das Bornumer Holz und ganz im dunstigen Hintergrund der Benther Berg.
[Quelle: Historisches Museum Hannover]
Wahrscheinlich war er auch der "spiritus rector" für die Anfertigung des Lindenpanoramas von 1925. Zumindest war er derjenige, der die 13 Schwarz-Weiß-Fotos mit dem Rund-um-Blick vom Wasserhochbehälter auf dem Lindener Berg im Jahr 1951 dem Historischen Museum Hannover zur Archivierung übereignete.
Bisher ließ sich kein Anhaltspunkt dafür finden, dass Heinrich Nürnberger auch selbst fotografisch tätig gewesen ist. Bei Bedarf hat er einen professionellen Fotografen beauftragt, wie das Beispiel mit der Kanone "La belle Josephine" belegt, deren Transportwagen er von August Harre ablichten ließ. Die Panoramaaufnahmen von 1925 können allerdings nicht von diesem Fotografen stammen, denn August Harre soll bereits Jahre zuvor verstorben sein. Das Geschäft wurde allerdings von seiner Familie weitergeführt. Bisher gibt es jedoch keine gesicherten Hinweise, wer die 13 Bilder vom Turm des Wasserhochbehälters aus fotografiert hat.
Heinrich Nürnberger wurde zum 1. Oktober 1931 mit der Vollendung des 65. Lebensjahres in den endgültigen Ruhestand versetzt. Ab den 1940er Jahren werden die Nachrichten über ihn spärlich. Am 4. März 1949 verstarb seine Frau Anna, geb. Schwarze. Die Ehe war kinderlos geblieben. Eine Nichte aus Köln betreute Heinrich in seinen letzten Lebensjahren. Die Wohnungsadresse des Wahl-Lindeners blieb stets dieselbe: Dieckbornstraße Nr. 52 in Linden-Mitte, nahe am Pariser Platz.
Am 19. Dezember 1955 starb Heinrich Nürnberger im Alter von 89 Jahren. Beerdigt wurde er, wie könnte es anders sein, auf dem Militärfriedhof in Limmer. Eine Suche nach der Grabstätte im Herbst 2009 blieb erfolglos.
Quellen
Der Mann, den Julius Caesar lobte, Kurier-Tageblatt vom 19. Juni 1941.
Personalakte Heinrich Nürnberger der Stadtverwaltungen Linden und Hannover, 2 Bände, Stadtarchiv Hannover, Signatur Nr. 7517.
Jonny Peter und Wilfried Dahlke: Der Küchengartenpavillon in Linden, Quartier-Reihe "Lindener Geschichtsblätter", Heft 1, 2003.
Ein alter Lindener Veteran aus großer Zeit, Illustrierte Rundschau Nr. 32 vom 9. August 1913, Seite 639-640.
Hermann Lodemann: Im Dienste der Stadt Linden 1898 bis 1920, Berlin 1939.
Dank
Für wertvolle Anregungen und Detailrecherchen danken wir Dr. Wolf-Dieter Mechler (Historisches Museum Hannover), Jürgen Wessel und Horst Bohne.
[Eingestellt am 03.02.2010; zuletzt geändert am 23.01.2016]
Gebäude, Institutionen, sonstige Einrichtungen
- Heinrich Nürnberger, Dieckbornstraße 52, 30449 Hannover