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Die Brücke und der Tod
von Michael Jürging
Im Jahre 1911 veröffentlichte die hannoversche Firma Louis Eilers einen Bildband mit Fotos von ihren beeindruckenden Stahlkonstruktionen. Eines der Fotos zeigt die „Überführung der Nenndorfer Chaussee in Linden“. Die Straßenbrücke überspannte seinerzeit die Gleise des Bahnhofs Linden-Fischerhof auf Höhe der Hanomag. Die Nenndorfer Chaussee wurde später in Hamelner Straße (auf Lindener Seite) bzw. Hamelner Chaussee (auf Ricklinger Seite) umbenannt.
Die Brücke wurde 1963 abgerissen. Das Vergleichsbild aus dem Jahre 2008 konnte nicht genau vom selben Standort oben auf der Böschung fotografiert werden. Dort versperren inzwischen Bäume die Sicht, wie man am linken Bildrand sieht. Es gibt aber einen Orientierungspunkt, nämlich das alte Stellwerk im Hintergrund, etwas links von der Bildmitte. Auf dem historischen Foto ist es unter dem linken großen Brückenbogen erkennbar.
Die Brücke Nenndorfer Chaussee (später Hamelner Chaussee) am Bahnhof Linden-Fischerhof um 1910
[Quelle: Fa. Louis EILERS 1911]Vergleichsbild mit etwas verschobener Perspektive vom 23. Februar 2008. Das Stellwerk in der Bildmitte (gelber Kreis) ist noch immer vorhanden.
[Foto: Michael Jürging]
7. April 1945
In der Endphase des Zweiten Weltkriegs, wenige Tage vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen in Hannover, hat es auf der Brücke einen dramatischen Todesfall gegeben. In der Nacht vom 6. zum 7. April 1945 hatten alliierte Bombenflugzeuge die Industriebetriebe rund um den Bahnhof Fischerhof angegriffen, um die dortige Rüstungsproduktion auszuschalten. Dabei wurden auch die Gleise getroffen und es blieben mehrere Güterwaggons bewegungsunfähig liegen. Am darauffolgenden Tag, einem Sonnabend, stellten einige Bewohner aus den umliegenden Häusern fest, dass die Waggons unter anderem Lebensmittel enthielten. Die Nachricht sprach sich schnell herum. Die Menschen waren ausgehungert, und so strömten innerhalb weniger Stunden Zivilisten aus der Nachbarschaft und Zwangsarbeiter aus den umliegenden Rüstungsbetrieben auf das Bahnhofsgelände, um sich ihren Anteil zu sichern. Es soll sich am Nachmittag um mehrere hundert Personen gehandelt haben.
Auch der 13-jährige Werner Schneemann und seine 11-jährige Spielgefährtin Emmi Jansen wurden von dem regen Treiben angelockt. Beide wohnten in der Hamelner Chaussee in unmittelbarer Nähe der Brücke. Werner trug seine blaue Jungvolkuniform. An den Güterwaggons trafen die Kinder auf Emmis Vater, der zusammen mit weiteren Bahnbediensteten die Lebensmittel herausreichte. In diesem Moment hielt auf der Brücke ein Auto, zwei oder drei Männer in SS-Uniform stiegen aus und gaben mit ihren Waffen Schüsse in Richtung der Menschenmenge ab. Damals hingen an vielen Stellen Plakate mit der Warnung: „Wer plündert wird erschossen!“ Die Leute auf den Gleisen ergriffen die Flucht, es herrschte ein totales Durcheinander. Emmis Vater wies die Kinder an, sofort nach Hause zu laufen. Werner, der womöglich nicht mitbekommen hatte, aus welcher Richtung die Schüsse kamen, rannte mit Emmi an der Hand auf eine Treppe am Fuß der Brücke zu. Das war der kürzeste Weg nach Hause. Als er die ersten Stufen der Treppe erklommen hatte, Emmi hinter sich herziehend, traf ihn genau von vorne ein Kopfschuss. Der Junge war sofort tot.
Die ehem. Hamelner Chaussee (heute Am Tönniesberg) im Herbst 2013. Am hinteren Ende der Straße setzte früher die Brücke über den Bahnhof Fischerhof an.
Werner Schneemann wohnte vorne rechts im Haus Nr. 9, seine Spielkameradin Emmi Jansen hinten rechts im Haus Nr. 1.
[Foto: Michael Jürging]
Nachbarn liefen zum nahe gelegenen Wohnhaus und alarmierten die Mutter. Vier holländische Zwangsarbeiter trugen den Jungen nach Hause. Auf der Brücke versuchten aufgebrachte Anwohner die SS-Männer zur Rede zu stellen. Der Todesschütze behauptete, es sei ein Versehen gewesen, er habe es nicht mit Absicht getan. Emil Meyer, ein Onkel von Werner Schneemann, der auf die Nachricht vom Tod seines Neffen ebenfalls zur Brücke geeilt war, bekam zu hören: „Das kommt auf einen nicht an, heute seid Ihr dran, morgen sind wir dran.“ Dann stiegen die Uniformierten in ihr Auto und fuhren Richtung Linden davon. Niemand getraute sich, sie daran zu hindern.
Erste Ermittlungen verlaufen im Sande
Die Eltern des toten Jungen lebten bereits seit Jahren getrennt, gingen aber am Tag nach der Tat gemeinsam zum hannoverschen Polizeipräsidium und erstatteten Anzeige. Ein Kripobeamter kam in die Wohnung in der Hamelner Chaussee, um das Opfer in Augenschein zu nehmen. Danach hörten die Eltern nichts mehr von den Ermittlungen.
Spätere Nachforschungen ergaben: Im Haupttagebuch des Polizeipräsidiums wurden damals zwei Eintragungen vorgenommen, zum einen die Todesmeldung mit dem Zusatz „Unglücksfall“ und zum zweiten der Vermerk „Schneemann u. a. plündern“. Hat die Kripo seinerzeit überhaupt ermittelt? Drei Tage nach der Tat, am 10. April 1945, marschierten amerikanische Truppen in Hannover ein. Einen Monat später, am 12. Mai, gab die Kripo den Fall an die britischen Besatzungstruppen ab.
Weil im Chaos des Kriegsendes kein Arzt verfügbar war, der den Totenschein für Werner Schneemann hätte ausfüllen können, lag die Leiche des Kindes noch zehn Tage in der Wohnung der Mutter. Erst dann war eine Beerdigung auf dem Ricklinger Friedhof möglich.
Neue Ermittlungen nach zwanzig Jahren
Im Dezember 1964 wurden neue Ermittlungen aufgenommen. Ausgangspunkt war ein Antrag des Halbbruders von Werner Schneemann, vom Militärdienst bei der Bundeswehr freigestellt zu werden. Begründung: Sein Bruder sei in den letzten Kriegstagen „von betrunkenen Gestapo-Angehörigen erschossen worden“. Das Versorgungsamt Hannover fragte daraufhin bei der Staatsanwaltschaft nach, ob „der Tod des Schneemann die Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes ist“. Als sich herausstellte, dass es sich nicht um eine bloße Formalie, sondern um ein ungeklärtes Tötungsdelikt handelt, griff die Staatsanwaltschaft den Fall auf und versuchte, den Täter zu ermitteln. Die Akten sind im Hauptstaatsarchiv Hannover erhalten (siehe Quellenverzeichnis am Schluss).
Es wurden etliche Zeugen befragt, zunächst vor allem Verwandte und Nachbarn des getöteten Jungen sowie weitere Personen, die am 7. April 1945 vor Ort gewesen waren. Nach so vielen Jahren stimmten die Aussagen natürlich nicht in allem überein. Dennoch kristallisierte sich ein Täterprofil heraus. Die Augenzeugen beschrieben den Schützen als einen 35- bis 40-jährigen Mann in SS-Uniform, etwa 1,75 Meter groß und dunkelhaarig. Ein Zeuge war sich außerdem sicher, dass der Täter einen Bart „ähnlich wie Adolf Hitler“ getragen hat.
Kam der Täter von der Gestapo-Nebenstelle in Ahlem?
Schon kurz nach den Ereignissen im April 1945 machten Gerüchte die Runde, es habe sich bei den Uniformierten um Bedienstete der Geheimen Staatspolizei von der Gestapo-Nebenstelle in Ahlem gehandelt. Hildegard Fleischer, die Mutter von Werner Schneemann, bekam auch einen Hinweis, dass der Todesschütze in Hannover-Döhren wohnen würde. Darüber hinaus sollen die SS-Männer zuvor an der Erschießung von Häftlingen auf dem Seelhorster Friedhof beteiligt gewesen sein. Bezugspunkt dieser Gerüchte war die Tatsache, dass am 6. April 1945, also einen Tag vor dem Tod von Werner Schneemann, auf dem Seelhorster Friedhof 154 vorwiegend sowjetische Gefangene ermordet worden sind. Sie gehörten zu den Insassen des sog. „Arbeitserziehungslagers“ Lahde bei Minden. Die Wachmannschaft hatte die ausgezehrten Häftlinge Anfang April 1945 in einem Gewaltmarsch von Lahde nach Ahlem getrieben. Wer unterwegs nicht mehr weiter konnte, wurde am Wegesrand erschossen. In Ahlem wurden jene Häftlinge herausgesucht, die vor dem Einmarsch der Alliierten auf jeden Fall beseitigt werden sollten. Der Mordbefehl kam von SS-Obersturmbannführer Johannes Rentsch, dem Chef der hannoverschen Gestapo-Leitstelle. Ausgeführt wurde er von Mitgliedern der Wachmannschaft des Lagers Lahde und SS-Männern der Gestapo-Nebenstelle Ahlem. Der Leiter in Ahlem, SS-Obersturmführer Hans Heinrich Joost, der das bevorstehende Ende des Nazi-Reichs offenbar klar vor Augen hatte, wusste es geschickt so einzurichten, dass er bei den Erschießungen nicht persönlich anwesend war. Er sollte später mit einem Jahr Gefängnis davonkommen, nachdem er sich als reiner Befehlsempfänger dargestellt hatte.
Angesichts der Zeugenaussagen im Fall Werner Schneemann konzentrierte die Staatsanwaltschaft Hannover ihre Ermittlungen auf die ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter der Nebenstelle Ahlem und die Wachleute des Arbeitserziehungslagers Lahde. Davon hatten einige ihren Wohnsitz in Hannover. Mehrere der Befragten hatten wegen der Gefangenenerschießung auf dem Seelhorster Friedhof eine Haftstrafe verbüßt. Trotzdem sprachen sie in den Vernehmungen Mitte der 1960er Jahre stets von ihrer „angeblichen Beteiligung“ oder davon, sie seien „nicht direkt beteiligt gewesen“. Von dem Fall des getöteten Jungen und den Ereignissen am Bahnhof Fischerhof vom 7. April 1945 hörten sie angeblich zum ersten Mal oder hatten erst vor Kurzem davon aus der Zeitung erfahren – die Kriminalpolizei hatte im April 1965 mit einem öffentlichen Aufruf nach Zeugen gesucht. Nur einer der Befragten, der ehem. SS-Oberscharführer Friedrich Wilhelm Nonne, gab an, er habe in den Nachkriegsjahren mal von einem ehemaligen SS-Kameraden davon gehört, wisse aber nicht mehr genau wann und von wem. Letztlich konnte keinem der Befragten nachgewiesen werden, dass er am 7. April 1945 noch in Hannover gewesen war. Die meisten gaben an, dass sie sich am Vortag befehlsgemäß Richtung Braunschweig abgesetzt hätten.
Das nahe gelegene KZ Mühlenberg
Ein zweiter Personenkreis, der für die Tat auf der Brücke am Fischerhof zeitweilig in den Blick geriet, war die SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Mühlenberg, einer Außenstelle des KZ Neuengamme. Das KZ Mühlenberg war erst Anfang Februar 1945 im direkten Anschluss an ein schon länger bestehendes Zwangsarbeiterlager eingerichtet worden. Es befand sich am südlichen Ende der Hamelner Chaussee. Bei den KZ-Häftlingen handelte es sich um Juden verschiedener Nationalität. Sie wurden täglich über die Brücke am Bahnhof Linden-Fischerhof zur Hanomag getrieben, wo sie Zwangsarbeit beim Bau von Flugabwehrkanonen verrichten mussten. Die benachbarten Anwohner wussten darüber sehr genau Bescheid. Am 6. April 1945 wurden die Häftlinge wegen der heranrückenden alliierten Truppen von den Wachmannschaften zum KZ Bergen-Belsen in Marsch gesetzt. Auch in diesem Fall wurde jeder, der entkräftet zusammenbrach, unterwegs erschossen.
Etwa 100 Insassen des KZ Mühlenberg, die von vornherein nicht mehr marschfähig waren, wurden zunächst im Lager belassen. Zu ihrer Bewachung blieben auch fünf SS-Männer zurück, die aber zeitweilig ihren Posten verließen. Nach späteren Zeugenaussagen sollen die SS-Wächter schon in den Tagen zuvor häufig alkoholisiert gewesen sein. Als die zurückgelassenen Häftlinge sich nun vorsichtig umsahen und keine SS-Männer entdeckten, glaubten sie sich zunächst befreit. Ausgehungert wie sie waren, suchten sie sogleich in der Lagerküche nach Essbarem. In diesem Moment kamen die Wachleute zurück. Als sie die Häftlinge außerhalb ihrer Baracken antrafen, eskalierte die Situation. Die SS-Männer sahen sich einer „Meuterei“ gegenüber und begannen mit brutaler Gewalt, die Häftlinge zurückzutreiben. Dabei wurden 48 Menschen erschossen oder erschlagen. Die Überlebenden wurden noch am selben Tag – es war der 7. April 1945 – mit zwei Lastern nach Bergen-Belsen abtransportiert.
Die Zeugenaussage der Großmutter
In den ersten Zeugenbefragungen zum Fall Werner Schneemann im Jahre 1965 hatte es Indizien gegeben, dass der Täter unter den Wachleuten des KZ Mühlenberg zu suchen sei. So hatten die vier holländischen Zwangsarbeiter, die den toten Werner nach Hause getragen hatten, davon gesprochen. Des Weiteren erinnerte sich Auguste Meyer, die Großmutter des Jungen, die mit ihm und ihrer Tochter im selben Hause wohnte, dass am Nachmittag des Tattages mehrere Autos mit uniformierten Männern aus Richtung Linden über die Brücke kamen und auf der Hamelner Chaussee über den Tönniesberg weiter fuhren. Später will sie erfahren haben, die Männer seien im Lager Mühlenberg gewesen. Nach einiger Zeit kamen die Autos in umgekehrter Richtung zurück. Könnte es sich hierbei um den Abtransport der verbliebenen Häftlinge aus dem KZ Mühlenberg nach Bergen-Belsen gehandelt haben? Jedenfalls berichtete die Großmutter weiter, dass an der nahe gelegenen Brücke einige Männer ausgestiegen sind. Kurz darauf hörte sie Schüsse und Schreie. Jemand kam zu ihr mit der Nachricht, dass ihr Enkel erschossen worden ist.
Diese Aussagen stellen sowohl räumlich als auch zeitlich einen engen Zusammenhang zu den Todesumständen von Werner Schneemann her, enger jedenfalls als die Gerüchte über einen vermeintlichen Täter aus Ahlem. Gleichwohl haben Kripo und Staatsanwaltschaft in den Jahren 1965/66 vor allem in Richtung des Personenkreises aus Ahlem und Lahde ermittelt. Das mag unter anderem daran gelegen haben, dass mehrere Tatzeugen glaubten, bei dem Schützen habe es sich um einen SS-Offizier gehandelt. Zur Wachmannschaft des KZ Mühlenberg gehörten jedoch keine Offiziere. Andererseits besaß keiner der Augenzeugen nähere Kenntnisse von den verschiedenen Diensträngen und Uniformabzeichen. Es ist also nicht sicher, ob es sich bei dem Todesschützen wirklich um einen Offizier gehandelt hat.
Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein
Am 4. Oktober 1966 hat die Staatsanwaltschaft Hannover das Verfahren eingestellt. Im abschließenden Bericht heißt es: „Weitere Ermittlungen versprechen keinen Erfolg. Wegen der widersprüchlichen Angaben der Tatzeugen, die eine Identifizierung des Täters nicht zulassen, wäre die Tat nur noch dann zu klären, wenn der Täter sie von sich aus zugäbe. Das aber ist nicht zu erwarten.“
Der Bericht endet mit einer merkwürdigen Schlussfolgerung: Der damalige Schießbefehl bei Plünderungen („Wer plündert wird erschossen!“) habe „der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung und der gerechten Verteilung aller vorhandenen Lebensmittel“ gedient. Der Schusswaffengebrauch sei deshalb nicht aus niederen Motiven geschehen. Insofern sei die Erschießung des 13-jährigen Werner Schneemann „strafrechtlich nur Totschlag gewesen und dürfte damit verjährt sein“.
Quellen
Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover, Signatur: Nds. 721 Hann. Acc. 90/99 Nr. 98/1 bis 98/3
Die Erschießungen auf dem Seelhorster Friedhof 1945, herausgegeben von der Landeshauptstadt Hannover (Redaktion: Karljosef Kreter), Hannoversche Geschichtsblätter, 1999
Das KZ-Außenlager Hannover-Mühlenberg: „Vernichtung durch Arbeit“, herausgegeben vom Freizeit- und Bildungszentrum Weiße Rose, Hannover 1981
Konzentrationslager in Hannover – KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs, von Rainer Fröbe et al., Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 35, 1985
Hans Heinrich Joost, https://marjorie-wiki.de/wiki/Hans_Heinrich_Joost (aufgerufen am 13.03.2021)
Dank
Für ihre Unterstützung bei den Recherchen danke ich Horst Bohne, Dr. Marlis Buchholz, Martina Busse, Horst Dralle, Dr. Wolf-Dieter Mechler (Historisches Museum Hannover), Bernd Sperlich, Dr. Bernhard Strebel, Jörg Vespermann, Jürgen Wessel und Andreas Wulze (Kampfmittelbeseitigungsdienst).
[Eingestellt am 10.10.2014; zuletzt geändert am 13.03.2021]